Portrait Andreas Pecht

Andreas Pecht – Kulturjournalist i.R.

Analysen, Berichte, Essays, Kolumnen, Kommentare, Kritiken, Reportagen – zu Kultur, Politik und Geistesleben

Liebesgrüße aus dem Oberstübchen

ape. Manchmal beschleicht einen das Gefühl, im eigenen Hirn säße noch ein anderer Mensch. Quasi ein Alter ego, das nur darauf lauert, dass man unaufmerksam oder müde wird, beziehungsweise sich gedankenlos treiben lässt. Dann schlägt es zu, übernimmt den Hirnapparat und lässt einen Sachen denken, bisweilen sogar tun, auf die man im Vollbesitz seiner Geisteskräfte nie und nimmer verfallen wäre. Was mich angeht, so liegt der Verdacht nahe, Freund Walter habe mir einen Avatar seiner selbst in den Kopf geschmuggelt. Anders sind so Momente, in denen ich gedanklich eindeutig ungehobelte Züge dieses Burschen annehme, kaum erklärbar.

Woher sonst sollte der archaische – und abgesehen von lange vergangenen Jugendtagen – eigentlich gar nicht zu mir passende Impuls kommen: „Dem würd‘ ich am liebsten aufs Maul hauen”, angesichts brauner Blödsinnshetzer? Woher sonst sollte bei den ministerialen und offizialen Festreden zum Jubiläum einer von mir hochgeschätzten Kultureinrichtung plötzlich im Hinterkopf dieses Gähnen mitsamt dem Stöhnen „laaaaangweilig!” rühren? Oder wer provoziert in mir beim genießerischen Betrachten der hübschen Gesichter Herbst-/Wintermode vorstellender Modells eine Ketzerei, die sich gegen jeden Kavaliersbenimm versündigt?: „Allesamt sind’s verbiestert und leiblich bloß Klapperknochengestelle; nix zum Hinschauen, nix zum Knuddeln.”

Dies und manche Unstatthaftigkeit mehr, das bin nicht wirklich ich. Das kann nur jemand anderes in meinem Kopf sein. Ganz dubios wird die Angelegenheit, wenn du bei Spaziergang, Sport, Yoga oder zum Schlafengehen den Denkkasten bewusst ausschaltest – der aber nach einem kleinen Weilchen wie von Geisterhand wieder anspringt und auf Maximalleistung hochfährt. Dann ist wieder dieser Typ da am Zug, der andere. Der verschaltet Synapsen als gäbe es dafür keinerlei Regeln und sprudelt auch noch geniale Ideen in Serie heraus. Nun gut, denkst du, wenn es denn so sein soll: Nimmst halt zum nächsten Spaziergang Papier und Stift mit, legst ein Notizbüchlein aufs Nachtschränkchen; auf dass die Quälerei wenigstens nutzbar gemacht werde. Dann aber zeigt dir der Hirngeist den Stinkefinger – und schweigt sich aus, bis die Schreibutensilien wieder verschwunden sind.

Es ist zum Irrewerden. „Ich bin’s nicht”, beteuert Walter. „Nö, nö, alles normal”, sagt die Wissenschaft und resümiert ihre jüngsten Erkenntnisse über die Funktionsweise unserer Oberstübchen wie folgt: „Die besten Gedanken kommen uns, wenn wir nicht denken.” Will sagen: Just im Zustand der Entspannung, der Ruhe, des süßen Nichtstuns, der Muse und des Schlafes läuft unser Hirn von ganz alleine zur Höchstform kreativer Produktivität auf. Dann stellt es zwischen alten und jüngeren Gedanken inklusive Gefühlen sowie lebenslang erworbenen Erfahrungen und Kenntnissen die tollsten Verbindungen her. Auf die würden wir nach der Methode „darüber muss ich erstmal konzentriert nachdenken” niemals kommen.

Walter hat aufmerksam mitgelesen und brummt jetzt neunmalklug: „Womit klar sein dürfte, dass unsere Lebensweise völlig falsch organisiert ist. Man sollte – der Wissenschaft und der Menschennatur folgend – zumindest die Geistesarbeiter primär fürs Nichtstun bezahlen.” Kein Einwand meinerseits. Wie ist das aber dann mit „aufs Maul hauen”, „laaangweilig” und „nix zum Knuddeln”?, frage ich den Freund. Der schaut mich seltsam an und antwortet knapp: „Du solltest die Wahrheit über dich allmählich annehmen”.

(Erstabdruck/-veröffentlichung außerhalb dieser website 43. Woche im Oktober 2016)

Andreas Pecht

Kulturjournalist i.R.

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