Portrait Andreas Pecht

Andreas Pecht – Kulturjournalist i.R.

Analysen, Berichte, Essays, Kolumnen, Kommentare, Kritiken, Reportagen – zu Kultur, Politik und Geistesleben

Moderner Werther in Bonn auf Großleinwand

ape. Bonn. Wer einen Roman kennenlernen will, der liest. Wer Gefühlsausdruck bis ins kleinste Gesichtsfältchen auf drei Meter hohen Nahaufnahmen sehen will, der geht ins Kino. Anders jetzt in Bonn. Wer dort die Leiden des jungen Werther via filmischem Breitwandformat noch in den kleinsten Hautporen des Titelhelden erkennen will, der besucht das Theater. Pardon, so formuliert, gibt’s gleich wieder falsche Erwartungen. Angekündigt ist „Werther – nach Johann Wolfgang von Goethe”. Weshalb der Vorwurf ungerecht wäre, Regisseurin Mirja Biel habe den legendären Briefroman unseres Dichterfürsten mutwillig zu Schanden geritten.

Lässt man mal Irritation und Verärgerung darüber beiseite, dass in den Godesberger Kammerspielen von Goethes Text wenig, von den Kopfbildern des Romanlesers fast gar nichts bleibt, dann ist zu konstatieren: Dieses vom Sturm-und-Drang-Roman über eine unmögliche Liebe inspirierte neuzeitliche Werk ist nicht dumm. Was Benjamin Berger (Werther), Johanna Falckner (Lotte) und Robert Höller (Albert) da auf einem schmalen Streifen Vorderbühne mit Verve erspielen, darf als recht gescheite Übersetzung und Weiterdenke der Goethe’schen Konfliktkonstruktion ins Heute gelten.

Die Titelfigur stellt sich in zerrissenen Jeans als widerspenstiger, wütender Jugendtypus vor, der mit den Ordnungs- und Konsummaximen der bürgerlichen Modernegesellschaft rein gar nichts am Hut hat. Dieser sensible Kerl wird überwältigt von plötzlich entflammter Liebe. Die gilt Lotte, einem kecken Girl unserer Tage. Das spielt mit Neckerei, Tanzerei, Liebelei, Sexappeal. Das motzt gegen beengende antiquierte Frauenrollen, formuliert aber als Lebenswunsch: „Für mich soll jeden Tag Weihnachten sein.”   

Doch Lotte ist schon vergeben. An Albert, den erfolgreichen Geschäftsmann – der in einer langen neoliberalen Suada erklärt, dass Deutschland Leistungsgerechtigkeit brauche und Sozialpolitik deshalb bedeuten müsse, Anreize für die Besten des Landes zu schaffen. Natürlich landet die Frau schließlich in den Armen dieses Mannes, der ihr ewige Weihnacht verspricht. Da wird der schmale Spielraum für einen Moment zur Showbühne geöffnet, auf der Lotte und Albert sich mit schmalzigem Pop-Duett als Superstar-Gewinner feiern. Werther gibt sich darob die Kugel. So gesehen, steckt im Bonner „Werther” indirekt doch eine Menge Goethe.

Was indes zu ernsten Bedenken Anlass gibt, ist zweierlei. Erstens, die anhaltende Ausbreitung einer Seuche im deutschen Theater, an der Bonn besonders schwer erkrankt scheint: Statt Theaterstücke zu spielen, werden ein ums andere Mal Adaptionen von Romanen, Erzählungen, Filmen auf die Bühne gewuppt. Im Bonner Theater macht diese Unart heuer schier die Hälfte der Schauspielproduktionen aus. Zweitens, es nimmt die Einbeziehung von Filmtechnik und Kinoästhetik im Theater überhand.

Große Teile etwa dieses „Werther” bestehen aus per Minikamera riesenhaft auf die bühnenbreite Rückwand projizierten Nahaufnahmen vom Sprechen und Mienenspiel der Protagonisten. Mit Verlaub, so schaufelt sich die Theaterkunst das eigene Grab. Denn im Wettbewerb mit der ständig aufrüstenden Kino- und heimischen Multimediatechnik kann sie nur durch ihre ureigenen Mittel bestehen: Echte Menschen spielen live und eins zu eins auf der Bühne – entfalten mit ihrer Spielkunst und Präsenz auch und gerade ohne technische Vergrößerung packende Wirkung bis in die letzte Zuschauerreihe. Das ist das eigentliche Geheimnis des Theaters, und aus solcher Echtheit entspringt seine die Zeitläufe überdauernde Kraft.
               
Andreas Pecht

 

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