Portrait Andreas Pecht

Andreas Pecht – Kulturjournalist i.R.

Analysen, Berichte, Essays, Kolumnen, Kommentare, Kritiken, Reportagen – zu Kultur, Politik und Geistesleben

Neujahrsessay 2002: Lust und Freude am Lernen

ape. Die internationale Schulstudie „Pisa“ hat Deutschland geschockt. Unsere Schüler begreifen Texte nicht, können ihr Wissen nicht praktisch anwenden. Und: Kinder reicher Familien haben bessere Chancen. Alle sprechen nun von der Notwendigkeit des Umdenkens in Schule, Bildungspolitik, Gesellschaft. Aber in welche Richtung soll umgedacht werden? Antworten lassen sich nicht aus dem Ärmel schütteln, denn sie berühren auch grundsätzlich verschiedene Denkungsarten über Schule und Lernen, Bildung und Erziehung, Wissen und Begreifen, Pauken und Durchdringen.

Da sitzt plötztlich dieser alte Mann zwischen den Erstsemestern im germanistischen Seminar. Rentner, 68 Lebensjahre auf dem Buckel, Gasthörer; will „noch einmal die Schulbank drücken“, will „noch einmal etwas ganz anderes lernen“. Warum er sich ohne Not die Mühsal eines Studiums auflädt, fragen die Jungen. „Mir macht das Lernen Freude“ erklärt der Alte, packt Block und Schreibstift aus, macht sich mit Eifer ans Werk. Keine Rede von „Wer rastet, der rostet“. Dieser Senior studiert nicht, um sich fit zu halten, sondern er bereitet sich eine Freude: Lernen ist ihm ein besonderer (später) Lebensgenuss – geistige Fitness gibt es als Nebenprodukt gratis. Schwer zu begreifen für seine 40 oder 50 Jahre jüngeren Mitstudenten, die „fürs Leben lernen“, sprich: zwecks Berufschancen sich aufs Examen vorbereiten müssen.

Kür und Pflicht

Ein (erlebtes) Beispiel, das zwei grundlegend verschiedene Verständnisse von Lernen offenbart. Hier Lernen als Freude stiftendes, weitergedacht: als Sinn stiftendes Tun; dort Lernen als zweckgerichtete Ausbildung. Hier freiwillige Kür, dort (überlebens-)notwendige Pflicht. „Halt!“, rufen Pädagogen diverser Zeitalter dazwischen. „Sind wir nicht seit Jahr und Tag bemüht, diesen Graben zuzuschütten?! Besteht nicht von jeher unser Streben darin, Lernen zu einer spannenden Entdeckungsreise, Kenntnis- und Fertigkeitserwerb zu einem lustvollen Prozess zu machen?! Gilt uns nicht stets Erziehung als Weg hin zur human-sozialen Selbstbestimmung?!“

So ist es. Eine Vielzahl pä dagogischer Theoretiker und Praktiker dachten, schrieben und wirkten auf oft ganz verschiedene Weise in diesem Sinn – Humboldt, Pestalozzi, Kerschensteiner, Spranger, um nur einige der bekanntesten Namen aus dem deutschen Raum zu nennen. Jeder Lehrer weiß von ihnen und all den anderen Lern-/Erziehungs-Ansätzen, kommen sie von Rousseau, Don Bosco, Makarenkow, Montessori, Steiner oder aus Summerhill. Und doch: Mochte die Pädagogik auch in Theorie und diversen Versuchsprojekten die herrlichsten Höhen erklimmen, so behielt drunten im Alltags-Tal über Generationen jener berüchtigte Trichter die Vorherrschaft, mittels dessen des Lehrers Zeigefinger (oder Rohrstock oder Notenbuch) Fakten, Fakten, Fakten ins oft sperrig bleibende Hirn der Zöglinge presste.

Nix Trichter, nix Rohrstock – verwahren sich heutige Lehrer zu Recht. „Motivation“ heißt der zentrale schulpraktische Grundsatz seit den 60er/70er-Jahren des 20. Jahrhunderts. Gemeint ist das Wecken der Schüler- Neugierde, das Entfachen der Lust auf Durchblick, Verstehen, Begreifen.

Alte Gewohnheiten

Somit wäre die human-be stimmte Pädagogik – wohl erstmals seit der Antike – endlich auf breiter Front im Alltag angelangt? Wenn, ja wenn die Motivation nicht stets auch erstes Opfer eben dieses Alltags würde. Die Lehrkraft sei in erster Linie Motivator, lautet die Forderung. Was aber, wenn dem Motivator selbst die Motivation abhanden kommt? Oder: Wenn er zwar die Neugierde der Schüler mit einer geschickten ersten Motivationsphase weckt, sie hernach aber doch wieder mit Fakten, Fakten, Fakten totschlägt?

Da landet manche als spannende Entdeckungsreise begonnene Unterrichtseinheit nur allzu bald in der Tristesse mehr oder minder hübsch verpackter Pauk- Stunden. Beispiele: Statt ausgiebig über Inhalt und Lebensbezug eines Gedichtes oder Romanes zu disputieren, statt den Seelenqualitäten einer Sinfonie nachzuspüren, gibt’s akademische Formenanalyse bis zum Erbrechen. Statt die Wunder von Hebelgesetzen, schiefer Ebene, Wassersäule, Elektrizität … am sinnlich erfahrbaren, „anschaulichen“ Lebensbeispiel zu erforschen, zu erhellen, in Anwendung zu bringen, wird theoretisiert. Statt die Menschengeschichten hinter den Geschichtszahlen „auszugraben“, wird Geschichte unter Faktenbergen begraben. Statt diesen Stoff mit jenem zu verbinden und das Verständnis fürs Netzwerk Welt zu schärfen, bleibt’s beim in sich geschlossenen Fachunterricht.

Nicht an jeder Schule, nicht bei jedem Lehrer, nicht in jeder Unterrichtsstunde und selten in der zugespitzt dargestellten Form. Aber in der Tendenz offenbar doch auf breiter Front – womöglich aufgepeppt durch massiven Einsatz moderner Multimedia-Unterrichtsmittel. Aber wie sagte der Leiter eines Lehrerseminars: „Der Unterschied zwischen gutem und schlechtem Unterricht macht sich nicht an Schiefertafel oder Computer fest, sondern daran, ob es ihnen (den Lehrern) gelingt, die Schüler zu bewegen, dass sie das Thema selbst in die Hand nehmen und aus eigenem Antrieb durchwalken.“

„Was gibt es?“ „Wie geht das?“ „Warum ist das so?“ „Welche Konsequenz hat das für uns?“ – vier Fragen, vier Erkenntnisschritte, auf die jeder gute TV-Produzent seine Natur-, Wissenschafts- oder Kultur-Sendungen aufbauen muss. Dann lassen sich Zuseher in beträchtlicher Zahl gewinnen und „binden“. Der Erfolg solcher Sendungen beim Publikum rührt daher, dass sie die Lust an Welt-„Erfahrung“, -Entdeckung, -Durchdringung ebenso ansprechen wie das Bedürfnis nach erinnernder und/oder historisch fortlaufender Zeitzeugenschaft, Nostalgie inklusive. Kaum ein Fernsehzuschauer kann aus den so gewonnen Erkenntnissen direkt „Nutzen ziehen“. Und doch lernt er, für sich, sein Leben; und dieses Lernen bereitet ihm Freude: „Abenteuer Wissenschaft“, ein Titel, der Programm sein kann, sein muss – fürs Lernen. Schule kann sogar noch einen Schritt weitergehen: Viele Entdeckungen, die dem passiv lernenden TV-Seher nur vorgeführt werden, können, sollen Schüler selbst machen. Und sie dürfen Spaß daran haben!

An den Ergebnissen der internationalen Schulstudie „Pisa“ ist weniger erschreckend, dass Deutschland so weit hinten steht. Wer jetzt bloß über mangelnde Wettbewerbsfähigkeit klagt, verkennt ebenso, worum es geht, wie derjenige, der vorrangig druckvollere Wissensvermittlung und effektivere Wissensüberprüfung fordert. „Pisa“ offenbart viel eher ein grundlegend falsches Verständnis von Lernen in Deutschland: (Abfragbares) Wissen wird hier zu Lande höher bewertet als Durchdringen, Begreifen und Anwenden. Vielleicht ist Verständnis in diesem Zusammenhang das falsche Wort, denn zumindest jeder Lehrer hat gelernt (sollte gelernt haben), dass das eigentliche Schulziel das allgemeine Begreifen-Können selbstverantwortlicher Persönlichkeiten ist. Vernünftig strukturiertes Faktenwissen ist dabei unverzichtbares Hilfsmittel, mehr aber kaum.

Lehrer im Zentrum

Insofern steht (nicht nur) Deutschland, will es aus dem „Pisa“-Schock ernsthaft Konsequenzen ziehen, tatsächlich eine Art Kulturrevolution im Schulwesen bevor. Diese Neuordnung/Neuorientierung muss vorrangig von Lehrern und Erziehern getragen werden: Die revitalisieren, was sie einmal gelernt haben; die sich von beamteten Wissensvermittlern in Pädagogen rückverwandeln; die Klassenzimmertüren aufreißen, Hilfe, Rat, Kooperation, Teamgeist hereinlassen und hinausschicken. Und: Die als engagierte Pädagogen sich selbst ebenso wie der Politik und der Gesellschaft wieder und wieder vor Augen führen, dass es in der Schule eines demokratischen Gemeinwesens letztlich nur ein einziges wirkliches Erfolgsrezept geben kann: Lust und Freude am Lernen.

Andreas Pecht

Erstabdruck am 2. Januar 2002

Andreas Pecht

Kulturjournalist i.R.

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