Portrait Andreas Pecht

Andreas Pecht – Kulturjournalist i.R.

Analysen, Berichte, Essays, Kolumnen, Kommentare, Kritiken, Reportagen – zu Kultur, Politik und Geistesleben

Freud und Leid der Einsamkeit („Quergedanken“)

         Monatskolumne Nr. 219 Oktober 2023

Dünnes Eis“, brummt Freund Walter, als er die Überschrift sieht. „Schon das Wort Einsamkeit ist doch heutzutage negativ besetzt.“ Ich weiß, und das hat ja auch Gründe. Dauerhaftes Alleinsein ist für viele Zeitgenossen ein übles Schicksal. Denn der Mensch ist als soziales Wesen angelegt. Es war schließlich die Fähigkeit zur durchdachten Kooperation, die den Homo sapiens zum Herrscher über die Welt werden ließ. Dass er diese Sache nicht zu Ende gedacht hat, Kooperation durch allfälligen Wettbewerb ersetzte, und der Planet deshalb mit allem was darauf kreucht und fleucht unter dieser Herrschaft leidet, ist ein tragischer Widersinn. So widersinnig wie der Umstand, dass es ausgerechnet in der modernen Massengesellschaft mehr vereinsamte Leute gibt als je zuvor in der Zivilisationsgeschichte.

Aber ich möchte mal über die positive Seite von Einsamkeit sprechen. Doch, doch, die gibt es. Nehmen wir, lieber Freund, einfach mal uns beide. Im Grunde sind wir ja zwei Typen recht geselliger Natur. Liebend gern hocken wir im Duo oder mit Freunden im Wirtshaus beziehungsweise an der häuslichen Tafel beisammen; schmausend, plaudernd, auch lautstark disputierend oder mal ebenso singend. Und dennoch gibt es Phasen, da denkt ein jeder: Ach, lass mir jetzt meine Ruh’! Ich will nicht wieder die schnöde Welt rauf- und runterdiskutieren, mag das Pallaver noch so interessant sein. Ich will jetzt auch nicht feiern und ausgelassen sein. Ich will einfach mal mit mir allein sein. Vielleicht nur ein paar Stunden, vielleicht einige Tage, vielleicht sogar die eine oder andere Woche – selbst ohne Smartphone in der Hand oder PC vor der Nase: Eben auch ganz ohne das unaufhörliche Weltgegacker.

Walter und ich kennen das voneinander. Wir respektieren das Bedürfnis nach zeitweisem Alleinsein, nach Einsamkeit, ja Weltabgeschiedenheit als völlig normal. Es gibt dafür berühmte Vorbilder. Der alte Goethe etwa. Am liebsten hatte er an seinem Tisch eine muntere Gästeschar versammelt, schenkte allen, vorneweg sich selbst, reichlich Wein ein. Doch zugleich durchstreifte er oft tagelang als einsamer Wanderer die Landschaften. Wie überhaupt bei einem beträchtlichen Teil der Kunstschaffenden älterer Zeit das Bedürfnis nach temporärer (vereinzelt auch genereller) Einsamkeit sehr stark wirkte. Was nicht verwundert, war doch individuelle Privatsphäre bis in die jüngere Vergangenheit eine nahezu unbekanntes Phänomen. Ob in Steinzeithöhlen oder -hütten, ob nachher in Bauernkaten oder Proletariersiedlungen, ja selbst in herrschaftlichen Burgen und Schlössern: Man lebte dicht aufeinander, Momente echten Alleinseins hatten Seltenheitswert. Erst im Laufe des 20. Jahrhunderts wurden Wohnstätten zum Ideal, in denen jedes Familienmitglied sein eigenes Zimmer haben sollte. Fast alle träumten davon und strebten danach, leisten können es sich bis heute viele nicht.

Immer wieder mal ungestört eine Weile alleine ganz für sich zu sein: Eigentlich dürfte man das getrost als eine der positiven Errungenschaften der Neuzeit ansehen. Umso mehr irritiert (mich), dass jetzt Menschen in wachsender Zahl diesen Zustand augenscheinlich fürchten. Sie machen per Smartphone ihre Zimmer zu öffentlichen Orten, ihre Ausflüge in die „Einsamkeit der Natur“ zu öffentlichen Ereignissen und mögen selbst in den intimsten Einsamkeitsmomenten nicht mehr von der Gesellschaft des Weltnetzes abgekoppelt sein. Nun ja.

Andreas Pecht

Kulturjournalist i.R.

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