Portrait Andreas Pecht

Andreas Pecht – Kulturjournalist i.R.

Analysen, Berichte, Essays, Kolumnen, Kommentare, Kritiken, Reportagen – zu Kultur, Politik und Geistesleben

Neujahrsessay 2021/ Corona – ein kleiner Vorgeschmack auf die große Klimakrise

Der modernen Industrie- und Konsumgesellschaft mangelt es für große Notlagen an Resilienz,

ape. Man stelle sich für einen Augenblick vor, es wäre nicht gelungen, wirksame Impfstoffe gegen Sars-CoV-2 zu entwickeln. Was dann, ohne Aussicht auf Beendigung der Corona-Pandemie durch die größte Impfkampagne der Geschichte? So abwegig ist die Vorstellung gar nicht. Immerhin wütet seit vier Jahrzehnten rund um die Erde ein Virus, gegen das es bis heute keine Impfung gibt und dem alljährlich weltweit noch immer mehrere hunderttausend Menschen zum Opfer fallen: das die Aids-Krankheit auslösende HIV. Obendrein geht just beim Schreiben dieses Essays die beunruhigende Nachricht um die Welt: Es sind Mutationen des Corona-Virus aufgetreten, womöglich noch ansteckender als das bisherige Sars-CoV-2.

Naturgemäß lassen sich viele der drängendsten Fragen zu den neuen Corona-Varianten zunächst nicht eindeutig beantworten. Lösen sie mehr und schwerere Krankheitsverläufe aus? Unklar. Wirken die Impfstoffe auch gegen die Mutationen und wie effektiv? Unklar. Was bedeutet „bis zu 70 Prozent stärker ansteckend“ für unsere Schutzpraxis? Muss der Sicherheitsabstand auf zwei, drei Meter ausgedehnt werden? Unklar. Sind wir gezwungen, den Shutdown auf das Niveau „Made in China“ zu verschärfen, also auch Produktionsbetriebe und Grenzen zu schließen, den Nah- und Fernverkehr zu unterbinden, totale Ausgangssperren zu verhängen? Unklar. Wie hoch könnten die Zahlen der Intensivpatienten und Todesfälle wachsen? Unklar. Sind weitere, eventuell noch gefährlichere Corona-Mutationen zu erwarten? Unklar.

Das künftige Auftreten weiterer „neuartiger“ Kankheitsviren, die sich heutzutage rasend schnell über den Planeten verbreiten, sei zeitnah nicht nur möglich, sondern gewiss. Darüber ist sich die Fachwelt weitgehend einig. Drei von etlichen Gründen seien benannt: Erstens, das Vordringen der Zivilisation auch in letzte bisher vom Menschen unberührte Ecken der Erde und darüber Kontakt zu gänzlich unbekannten Viren und Bakterien. Zweitens das Tauen des Permafrostes infolge des Klimawandels und damit Freisetzung von (Krankheits-)Keimen, mit denen die Menschheit seit Jahrtausenden nichts mehr zu tun hatte. Und drittens: Welche Erreger-Mutationen aus unserer industriellen Lebens- und Produktionweise selbst noch hervorgehen, ist kaum abschätzbar – siehe multiresistente Krankenhauskeime.

Was also tun, wenn eine globale Katastrophe über uns hereinbricht, gegen die weder Impfungen noch Medikamente zeitnah zu erwarten stehen? Der Blick auf die Aids-Pandemie gibt einen Fingerzeig: Änderung der eigenen Gewohnheiten im Sinne einer dauerhaften Anpassung an die Gefahrenlage. Heißt im Falle Aids etwa für einen Teil der Erwachsenen, dass ihr Liebesleben nicht mehr so ungezwungen verlaufen konnte wie es seit Etablierung der Antibabypille verbreitet Usus geworden war. Heißt inzwischen für fast zwei Generationen Jugendlicher, dass ihr Eintritt ins Liebesleben wieder unter den restriktiveren Vorsichts-Maßgaben der Zeiten vor 1961 stattfinden musste. „Tina, wat kosten die Kondome?“: Dieser Ruf quer durch den Supermarkt in einem Aids-Aufklärungsspot von 1989 half beispielhaft, das Kondom aus der Schmuddelecke zu holen und zum Kernstück einer neuen, Lebensgefahr vermeidenden Art des Sexuallebens zu machen.

Widerstände und Ignoranz gegenüber der Richtnorm „Mach‘s nur mit“ waren anfangs beträchtlich. Obendrein hielt die Mehrheitsgesellschaft Aids fälschlich einzig für das Problem einer schwulen Minderheit. Doch als die Zahl der Aids-Toten stieg und stieg, als die Pandemie selbst in viele Durchschnittsfamilien einsickerte, wuchs die Akzeptanz sowohl für die Aufklärungskampagnen wie auch die Maxime vom „geschützten Geschlechtsverkehr“. Die Vorgänge erinnern an heutige Querelen um Mund-Nasen-Maske und Sicherheitsabstand. Die Ausmaße sind zwar ungleich größer, weil die Bedrohung durch die Corona-Pandemie nun die Bevölkerung in ihrer Gesamtheit unmittelbar betrifft. Doch der Mechanismus ist der gleiche: Die Aushebelung gewohnter Abläufe, Praktiken, Strukturen, Selbstverständlichkeiten, die notgedrungene Veränderung der eigenen Verhaltensweisen stürzt uns in tiefe Verunsicherung, zieht uns psychologisch und/oder ganz handfest den Boden unter den Füßen weg.

In der Corona-Pandemie spielen alle auf Zeit: Mit der Hoffnung auf den Impfstoff vor Augen wollen und sollen wir uns durch die verbleibenden Krisenmonate beißen – um mit möglichst wenigen möglichst schnell heilenden Wunden wieder in einer Normalität anzukommen, wie sie vor Seuchenausbruch bestand. Egal aber, ob es 2021 erst noch schlimmer wird oder ob das Seuchengeschehen abebbt: Beunruhigend ist bereits jetzt, zu welch gewaltigen Verwerfungen die Seuche und ihre Bekämpfung in Infrastruktur, Politik, Gesellschaft, Wirtschaft sowie in den Köpfen vieler Zeitgenossen geführt hat. Corona macht offenkundig: Der modernen Industrie- und Konsumgesellschaft mangelt es für große Notlagen an Resilienz, an Widerstandsfähigkeit, Robustheit, Durchhaltevermögen, Anpassungsfähigkeit, auch an Reserven und Vorräten. Solche Lagen waren im Denken und real einfach nicht vorgesehen.

Dieser Mangel findet sich auf allen Ebenen – von politischen Entscheidern über Wirtschaftsakteure bis zu Leuten, die den Ausfall einer Urlaubsreise für unerträglich halten, gar jenen, die das Tragenmüssen einer Mund-Nasen-Maske als die ungeheuerlichste Zumutung überhaupt empfinden. Der Mangel an Resilienz kommt ebenso zum Ausdruck in der nun schmerzlich spürbaren sachlichen und noch mehr personellen Unterausstattung der Infrastrukturbereiche: Gesundheitswesen, Altenpflege, Kitas/Schulen, Polizei, Katastrophenschutz, Verwaltung inklusive Gesundheitsämter und andere Felder sind über Jahrzehnte immer weiter auf sparsame Kante genäht worden. Und nicht nur was Medikamente angeht haben sich große Teile der Wirtschaft aus Gründen der Profitabilität in die Abhängigkeit von eindimensionalen globalen Lieferketten begeben.

Die Corona-Pandemie bricht eine über Jahrzehnte oder zeitlebens gewohnte Normalität des geregelten Alltags auf. Das konfrontiert die meisten der heute hier lebenden Menschen mit bislang völlig unbekannten Herausforderungen. Das nie geübte, von vielen gar für historisch überholt gehaltene Umschalten auf Notverhältnisse über eine längere Zeit, kann nicht reibungslos funktionieren. Weshalb erwartbar war, dass Sekten, Fantasten und politische Extremisten an die Öffentlichkeit drängen und sich dort mit etlichen, wegen Einschränkung ihres Normallebens erbosten, Zeitgenossen vereinen zu lauthalsem Protest gegen den Seuchenschutz. Dieses Phänomen ist aus der Geschichte bekannt, es tauchte noch in jeder großen Seuchen-/Katastrophenlage auf.

Bemerkenswert ist eher, dass ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung aus freiem Willen, vernünftiger Einsicht, solidarischer Mitmenschlichkeit und natürlich auch zum Selbstschutz schon über Monate die notgedrungene Abkehr von der Normalität mitträgt. Manch einer ahnt wohl, was unvermeidlich kommen würde, gelänge es nicht, die Seuche einzudämmen und schließlich auszumerzen: Wir müssten mit dem Umbau vieler unserer Zivilisationsysteme beginnen. Müssten eintreten in eine Epoche ohne Großveranstaltungen, ohne globalen Massentourismus und beliebiges Herumreisen; in eine Epoche der Abstands- und Kleingruppenkultur, der De-Urbanisierung, des Primats von Distanzkommunikation und Mobilitätsreduktion, des dezentralen Arbeitens, Lebens, Lernens …

Alles, was groß ist und/oder viele Menschen auf engerem Raum zusammenführt, müsste auf den Prüfstand und entweder aufgegeben oder in Kleinsegmente zergliedert oder nach Maßgabe der Ansteckungsvermeidung völlig neu strukturiert werden. Und all das auf Dauer: Es entstünde eine neue, andersartige Normalität. Die Alternative dazu wäre furchtbar: Die Dinge einfach auf frühere Art laufen lassen – und bis zum Erreichen einer natürlichen Herdenimmunität in 15, 20 oder mehr Jahren die zu entsetzlicher Größenordnung aufwachsende Zahl der Seuchenopfer abhaken als unvermeidlicher Kollateralschaden. Mit einem solchen Vorgehen würde die Menschheit indes ihre Menschlichkeit aufgeben und ethisch zurückfallen hinter die Selbstverständlichkeit unserer steinzeitlichen Vorfahren, auch für ihre Schwachen, Kranken, Alten zu sorgen.

Unser aller Sehnsucht richtet sich derzeit auf baldige Rückkehr zur früheren Normalität. Und vielleicht, wahrscheinlich (?) gelingt das ja im Laufe 2021/2022. Allerdings drängt sich auch die Frage auf: Wäre das in vollem Umfang überhaupt sinnvoll? Mal abgesehen davon, dass nicht zuletzt im Hinblick auf kommende Pandemien die Politik der personellen Unterausstattung gesellschaftlicher Institutionen einer vehementen Kursänderung bedarf oder dass die zurückliegenden Monate auch manch positiven Aspekt eines Lebens mit mehr Langsamkeit, Achtsamkeit, Bescheidenheit zu Bewusstsein gebracht haben: Müsste man die jetzigen Einbrüche der vormaligen Verhältnisse nicht als Chance nutzen, die angesichts des Klimawandels ohnehin unvermeidliche Richtungsänderung der Zivilisationsentwicklung voranzutreiben? Weg von der Raubbau-Wirtschaft, hin zur globalen Nachhaltigkeitskultur.

So sehr die Seuche unsere Lebensart zu erschüttern scheint, so wird der Klimawandel doch die ungleich größere Herausforderung. Corona-Krise und Klimakrise

sind zwar sehr unterschiedlich, doch handelt es sich bei beiden um „Naturgewalten“, deren Ursache, Entwicklungsgeschwindigkeit und Wirkmacht in direktem Zusammenhang stehen mit der industriellen Zivilisation einer fast acht Milliarden Individuen umfassenden und aufs engste vernetzten menschlichen Weltgemeinschaft. In beiden Fällen gilt: Ist das Unglück erstmal angestoßen, folgt es unerbittlichen Naturgesetzen. Sars-CoV-2 brach urplötzlich über die Menschenwelt herein und schüttelte sie in kürzester Zeit durch – ohne bislang jedoch deren Grundfesten in Frage zu stellen. Dies vor allem, weil alle davon ausgeht, dass die Pandemie eine zwar schmerzhafte, aber doch vorübergehende Episode bleibt.

Anders liegen die Dinge im Fall Klimawandel. Da hat die Industriezivilisation einen langwierigen allumfassenden Prozess in Gang gesetzt, der selbst dann an den Grundstrukturen unseres Wirtschaftens und Lebens nicht spurlos vorbeigeht, würden wir ad hoc weltweit die CO2-Emissionen auf Null zurückfahren; wovon bekanntlich gar keine Rede sein kann. Es gingen viele Jahrzehnte, womöglich Jahrhunderte ins Land, bis die laufende Erderwärmung zum Stillstand käme, und sich, vielleicht, umkehrte. Folglich steht die Zivilisation in doppelter Weise vor der unumgänglichen Notwendigkeit, ihre bisherige Entwicklungsrichtung und damit unsere Lebensart ziemlich rigoros zu ändern: Erstens, um die Erderwärmung zu stoppen, bevor sie ein Ausmaß erreicht, das die gesamte planetare Ökosphäre durcheinander wirbelt und große Teile der Erde unbewohnbar macht. Zweitens, um mit den jetzt schon nicht mehr abwendbaren Folgen des bereits angestoßenen Erwärmungsausmaßes fertig zu werden.

Nach den Maßstäben der Natur verlief bereits der bisherige menschengemachte Klimawandelprozess rasend schnell. Nach menschlichen Wahrnehmungs-Maßstäben freilich recht langsam. Doch allmählich, aber viel rascher als erwartet, wird selbst hierzulande erlebbar, dass der Klimawandel nicht erst unsere Urenkel hart treffen wird. Und allmählich macht sich auch die Ahnung breit, dass es beim Klimaschutz mit ein bisschen Elektromobilität, Hausdämmung und Bäumepflanzen nicht getan sein wird, sondern wesentlich umfassendere Eingriffe in die bisherige Normalität unvermeidlich sind. Gerade an diesem Punkt können die aktuellen Erfahrungen aus der Corona-Pandemie als Anhalt dienen für das, was im Zuge des Klimawandels und Klimaschutzes schon zeitnah auf uns zukommt: Tiefe Eingriffe in gewohnte Strukturen und Verhaltensweisen, in wirtschaftliche, politische und private Daseinsmaximen.

Kurzum: Im Falle des Klimawandels steht uns nicht weniger ins Haus, als der Generalumbau des Hauses selbst – mit gesellschaftlichen Verwerfungen, Unsicherheiten, auch Unwilligkeiten bis hin zur blindwütigen Verweigerung weit über das jetzt in der Corona-Pandemie zu erlebende Maß hinaus. Denn beim Klimawandel gibt es keine Aussicht auf Impfstoff und baldige Wiederherstellung der gewohnten Normalität. Da müssen die Veränderungen auf Dauerhaftigkeit angelegt sein, auf lebenslänglich für uns und hilfreich für Generationen von Nachgeborenen.

Andreas Pecht

12 000 Anschläge. Erstpublikation am 3.1.2022 in Rhein-Zeitung

Andreas Pecht

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