Portrait Andreas Pecht

Andreas Pecht – Kulturjournalist i.R.

Analysen, Berichte, Essays, Kolumnen, Kommentare, Kritiken, Reportagen – zu Kultur, Politik und Geistesleben

Es war einmal … („Quergedanken“)

   Monatskolumne Nr. 241, 29. Juli 2025

quergedanken_logo Wenn ich mit jungen Leuten plaudere, taucht oft die Frage auf, wie alt ich sei. Eine Antwort lautet: „Ich bin schon so alt, dass ich als Kind noch eine Zeit erlebt habe, in der es noch kein Plastik und keine Supermärkte gab.“ Dieser Satz ruft verwunderte bis ungläubige Blicke hervor, fast als hätte ich mein Geburtsdatum auf „Steinzeit“ terminiert. Also gebe ich zu bedenken: Kinners, so lange liegt das gar nicht zurück. Nicht mal eine volle Lebensspanne. Da werden die Gesichter nachdenklich und Fragen kommen: „Wie ging denn das, wie kam man – ohne Supermärkte – an seine Lebensmittel und Haushaltswaren? Wie lebte man denn ohne Kunststoffe?“ Also erzähle ich von meiner Kindheit an der Wende von den 1950ern zu den 1960ern in einer 7000 Einwohner zählenden Kleinstadt.

Entlang einiger hundert Straßenmeter reihten sich dort kleine Läden. Allein im Stadtkern gab es vier Bäckereien plus zwei Konditoreien mit Cafés; dazu drei Metzgereien und acht Wirtshäuser. Beim Bäcker konnte man neben Backwaren auch Nudeln, Mehl, Hefe, Zucker erstehen – und sowieso all das an Geschnuckels, was Kinderherzen begehrten. Aus Glaskolben schöpfte die Bäckerin einem für zwei Groschen ein Schäufelchen Gummibären oder Bonbons, Lakritze, Brausestangen in ein Papiertütchen. Ging man mit der Oma einkaufen, konnte manchmal sogar eine der Schokoladentafeln in der Einkaufstasche landen, von denen in einem Seitenregal drei Sorten lagen.

Da war der Milch-Kramer, der aus seiner Kühlanlage Milch in die von Kunden mitgebrachten Blechkannen oder Glasflaschen zapfte. Kramer führte auch Quark, Yogurt, Sahne und vier Sorten Hartkäse. Alles in großen Kannen und Bütten schwimmend oder Blöcken lagernd, von denen Herr oder Frau Kramer die gewünschten Portionen in diverse Glas-, Blech- Keramik-Behältnisse füllte oder in gewachstes Papier wickelte. Ähnlich ging es bei Gemüse-Müller zu. Da standen Obst, Gemüse, Salat in Holzkisten gereiht. Die Ware zu begrapschen war verpönt. Man orderte „davon einen Kopf, davon ein Kilo und von denen fünf Stück“. Müller kam mit der Waagschale, packte drauf, wog ab, schüttete in Papiertüten, wickelte in Zeitungspapier, kippte etwa Kartoffeln oder Äpfel direkt in den Korb oder die Einkaufstasche aus Stoff/Leder, ohne die dunnemals kein Mensch einkaufen ging.

Bedient wurde überall, Selbstbedienung kannte man nicht, Plastiktüten und -verpackungen ebenso wenig. Die gab es noch nicht und die brauchte auch niemand. Denn viel von dem, was heute aus Plastik ist, existierte damals schon, allerdings bestehend aus Metall, Glas, Keramik, Holz, Papier/Karton, Leder, Stoff, Horn, (Natur)Gummi etc. Drogerie, Apotheke, Schreibwaren-/Bücherladen, Eisenhandel/Werkzeuge/Maschinen, zwei Schuhläden, zwei Bekleidungsgeschäfte, Schmuck/Uhren/Brillen, zwei Radio/TV/Elektrik-Geschäfte (mit Werkstatt) und manches mehr. Das kleine Städtchen war in summa ein Vollsortimenter. Und obendrein fuhren regelmäßig laut bimmelnd oder hupend u.a. Bäckerauto. Gemüselaster, motorisierter Getränkekutscher die Straßen ab, äußere Stadtteile und umliegende Dörfer an.

Der erste Supermarkt tauchte 1963 auf. Nach heutigen Maßstäben ein winziges Märktchen mit einem schmalen kurzen Rundgang zwischen den Regalen. Dort waren alle Warengruppen vertreten, die auch heute noch üblich sind. Doch gab es von jeder Produktart nur zwei, drei Sorten. Mehr brauchte kein Mensch – aber es kam mehr, noch mehr und immer mehr. Zeitgleich begann auch die Plastikepoche, die mit Tüten, Flaschen, Schüsseln, Boxen, Verpackungen, Klamotten, Spielzeug, Technikgeräten aus Kunststoff das Alltagsleben geflutet und nachfolgend unsere Meere in die heutigen Plastikkloaken verwandelt hat.

Freund Walter stichelt: „Hast du einen Nostalgien-Anfall und meinst, früher sei alles besser gewesen?“ Ach was, Quatsch. Früher war das meiste schlechter. Dennoch wäre es bei einigen Dingen gescheiter, man hätte sie beibehalten. Sowieso frage ich mich: Warum werden immer wieder jene Erfindungen Mainstream, die bei massenhafter Daueranwendung zu den übelsten Folgen führen?

Andreas Pecht

Kulturjournalist i.R.

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