Portrait Andreas Pecht

Andreas Pecht – Kulturjournalist i.R.

Analysen, Berichte, Essays, Kolumnen, Kommentare, Kritiken, Reportagen – zu Kultur, Politik und Geistesleben

Komm, lieber Mai, und mache … („Quergedanken“)

         Monatskolumne Nr. 226, Mai 2024

„Was ist jetzt los? Volksliedkunde oder wie?“ Freund Walter war etwas befremdet, als er mich in der ersten April-Woche heimsuchte, am Schreibtisch alte Frühlingslieder trällernd vorfand und in Musikfachbüchern nach deren Ursprüngen forschend. Statt lang und breit zu erläutern, welchen Zweck dies Tun verfolge, habe ich ihn gleich eingespannt in die Arbeit. Und zwar mit der Frage: Was fällt dir an den beiden folgenden Liedanfängen auf? Erstens: „Der Mai ist gekommen, die Bäume schlagen aus.“ Zweitens: „Komm, lieber Mai, und mache die Bäume wieder grün.“

Seine Antwort: „Ähm, na ja – es geht jeweils um den Mai und den Wunsch danach oder die Freude darüber, dass in diesem Monat die Bäume wieder ergrünen. Sozusagen Winter endlich adé, Frühlingsgefühle sind angesagt.“ Stimmt. Dazu passen in beiden Fällen auch die frohgemuten Melodien. Bei „Komm, lieber Mai“ komponierte diese übrigens kein Geringerer als Wolfgang Amadeus Mozart. Da staunt der Freund, hatte er nicht gewusst; ich übrigens bis eben auch nicht. Der Song mit der Mozart-Musik stammt von 1791, der andere aus dem Jahr 1842.

Nächste Frage an Walter: Was fällt dir auf, wenn du jetzt (wohlgemerkt Anfang April) aus dem Fenster über die Weiden in den Westerwald schaust? Antwort: „Hmm, also – ganz viele Bäume sind grün oder ergrünen gerade. Die Wiesen sind grün und es blüht auch schon allerhand.“ Geeenau, mein Lieber! Das ist der Springpunkt: Was die alten Lieder noch mit dem Mai in Verbindung bringen, vollzieht sich mittlerweile bereits Anfang April, teils schon Ende März.

Ich finde das ausgesprochen spannend: Da hocken heutzutage an sonnigen, warmen April-Tagen die Leut’ oft schon hemdsärmelig im Biergarten oder schmeißen auf der Veranda den Grill an; aus den Tiefen des in der Kindheit angelegten Liedgedächtnisses springen einem vergnügte Frühlingsweisen auf die Lippen. Sobald du aber deren erste Textzeilen – mehr kriegt ja meist niemand zusammen, im Unterschied zur vollständig erinnerten Melodie – genauer betrachtest, gibt es ausgerechnet aus uralten Volksliedern etwas über den aktuellen Klimawandel zu lernen. Nämlich: Seit der Entstehungszeit der Lieder hat sich der klimatische und biologische Frühling offenkundig um vier bis sechs Wochen nach vorne verschoben.

Die Natur im 21. Jahrhundert betrachtend und mit der im 18. und 19. verglichen, müsste man in den alten Songtexten eigentlich überall Mai durch April ersetzen. Sowas macht man aber nicht, man dichtet Klassiker nicht um, jedenfalls wenn’s nach mir geht. Eine die neuzeitlichen Gegebenheiten erläuternde Fußnote könnte indes nicht schaden. Außerdem würde „April“ sowieso nicht so schön wie „Mai“ ins musikalische Maß der Lieder passen. Und die Musik umkomponieren geht ja gleich gar nicht.

Während wir so plaudern stutzt Walter, beginnt plötzlich zu singen. Zur Melodie von „Der Mai ist gekommen“ nicht schön, aber laut dieses Verslein: „Und abends im Städtlein, da kehr ich durstig ein: / „Herr Wirt, eine Kanne, eine Kanne blanken Wein!“ / Ergreife die Fiedel, du lust’ger Spielmann du, / von meinem Schatz das Liedel, das sing ich dazu.“ Himmel, Freund, wo hast du das denn her? Das ist die vierte oder fünfte Strophe des Liedes. Antwort: „Keine Ahnung, war soeben plötzlich da. Ist wohl in jungen Jahren irgendwann, irgendwo, bei irgendeinem Gelage zwischen meinen Synapsen hängengeblieben. Sonst kenne ich keine Zeile des Textes.“ Typisch Walter halt.

Andreas Pecht

Kulturjournalist i.R.

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