Portrait Andreas Pecht

Andreas Pecht – Kulturjournalist i.R.

Analysen, Berichte, Essays, Kolumnen, Kommentare, Kritiken, Reportagen – zu Kultur, Politik und Geistesleben

Neujahrsessay 2022 / Was nun: Endzeit oder Neuanfang?

Vier Großkrisen stellen die alte Zivilisation in Frage: Klimawandel, Artensterben, Pandemie, soziale Schere

3. Januar 2022
ape. Es gibt Zeiten, da kann es sinnvoll sein, sich des ultimativen Fundaments unserer Lebensweise zu erinnern. Das ist so einfach nicht. Denn je höher entwickelt ein Zivilisation, umso mehr verdecken immer komplexer werdende Realitäten ihre vermeintlich schlichte Basis. Jetzt aber, da eine Zeit heraufzieht, die unverkennbar nach historischen Weichenstellungen verlangt, ist es geradezu unabdingbar, sich die primäre materielle Grundlage unseres Daseins bewusst zu machen: Essen und trinken.

Über Jahrzehntausende erjagten und sammelten unsere fernen Altvorderen die zum Überleben ihrer 8 bis 20 Köpfe zählenden Gemeinschaften nötigen Nahrungsmittel. Sie schöpften ab, was Natur an einem Ort bot. Wurde das Angebot an jagbaren Tieren und wilden Nahrungspflanzen zu gering, zogen sie weiter. Sie suchten sich in den weithin menschenleeren Landen neue Gründe. Die zurückgelassenen Gegenden konnten sich erholen.

Das ging so bis zum Ende der letzten Kaltzeit vor 12 000 Jahren. Dann verschob sich das Erdklima aus natürlichen Gründen in Richtung Wärme. Weite Teile der auch die Binnenräume bedeckenden Eispanzer schmolzen ab. Das zuvor über 100 000 Jahre in den noch eisfreien Regionen vorherrschende kalt-trockene Klima mit seiner spärlichen Tundra-Vegetation wurde abgelöst von wärmeren, feuchteren, eine reiche Flora und Fauna fördernden Umweltbedingungen. Es konnte jener Prozess einsetzen, den wir „neolithische Revolution“ nennen: Der Homo sapiens entwickelte in den jetzt fruchtbaren Klimazonen eine völlig neue Art der Nahrungsbeschaffung: Ackerbau und Viehzucht.

Damit begann die Geschichte der „modernen“ Zivilisationen. Deren Entwicklung kennt seither nur eine Richtung: „Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch untertan.“ Es folgten mehr als 10 000 Jahre allumfassenden Wachstums – von der Sesshaftwerdung bis zu Staaten und Megametropolen; vom Grabstock über den vom Pferd gezogenen Pflug bis zu computerisierten Großmaschinen; vom Holzfeuer zum Kohle- und Ölzeitalter; vom einfachsten Dorfhandwerk zu weltumspannenden Industrien; von weniger als 1 Million Menschen auf Erden im zehnten Jahrtausend vor Christus zu etwa 300 Millionen im Jahre 0 auf 1000 Millionen anno 1800. Hernach explodierte die Weltbevölkerung in nur 200 Jahren auf knapp 8000 Millionen Individuen derzeit. Wobei die Kopfzahl nur die halbe Wahrheit ist. Fast noch mehr ins Gewicht fällt, dass der heutige Mensch im Durchschnitt gegenüber seinem Vorfahren ein Vielfaches an Ressourcen verbraucht, inklusive Verschmutzung, Vermüllung, Zerstörung.

Dass der reichere Teil der Weltbevölkerung dazu erheblich mehr beiträgt als der arme, liegt auf der Hand. Dass gleichwohl der ärmere Teil die verheerenden Folgen zuerst und am härtesten zu spüren bekommt, ist unschwer erkennbar. Dieses perfide Verhältnis birgt jede Menge Sprengstoff für die menschliche Weltgesellschaft. Wofür sich die Natur freilich wenig interessiert; sie reagiert stets nur darauf, was die Menschen ihr in summa antun. Weshalb der Weg unserer Zivilisationsgeschichte vom neolithischen Anfang bis heute gesäumt ist von den Ruinen zahlreicher Gesellschaften, die am eigenen Wachstumsdrang zugrunde gingen. Und es mehren sich heute die Anzeichen, dass nunmehr für die gesamte Menschheit der zehntausendjährige Wachstumsweg nicht länger gangbar ist.

Seit 350 Generationen lebt das Gros der Weltbevölkerung auf der Grundlage von Ackerbau und Viehzucht. Dies gilt auch noch für die globalisierte, urbanisierte, digitalisierte Gegenwart. Denn selbst die fortschrittlichste Wissenschaft und Technik kann aus Steinen, Sand und Luft keine Nahrung machen. Damit Menschen, auch Tiere, leben können, müssen Pflanzen wachsen. Damit sehr viele Menschen leben können, müssen viel mehr essbare Pflanzen wachsen, als die Natur von sich aus zur Verfügung stellen würde. Dazu bedarf es des Ackerbaus, der auf der Natur abgetrotzten Flächen die Wachstums- und Vermehrungsfähigkeit der Pflanzen ausnutzt und fördert. Was aber benötigen ihrerseits kultivierte wie auch wildwachsende Pflanzen, um diese Fähigkeiten zu entfalten? Antwort: Ein gemäßigtes Klima mit genügend Wärme und Feuchtigkeit. Dazu ein Milliardenheer tierischer Helfer von großen Säugern und Vögeln über Insekten und Würmer bis hinunter zu den kleinsten Bodenbakterien.

Der Klimakorridor für gutes Pflanzenwachstum ist schmal. Seit dem Neolithikum war er im Großenganzen recht stabil, ermöglichte so die Entwicklung der Zivilisationen. Gleichwohl brachten bereits kleine Schwankungen oft großes Elend mit sich. Ein bisschen zu kalt und/oder zu nass, ein bisschen zu heiß und/oder zu trocken: Schon brechen die Felderträge ein. Verstärkt durch Spekulation mit dem dann knappen Gut Nahrung, greifen Preissteigerungen und Hungersnöte um sich, setzt Massenmigration ein, kommt es zu Kriegen und Revolutionen. Zur Erinnerung: Zündfunke für die Französische Revolution war die Explosion des Brotpreises. Den Reichen konnte sie nichts anhaben, das einfache Volkes stürzte sie in nacktes Elend.

Heute ist der Homo sapiens mit etwas konfrontiert, das es seit mehr als zehn Jahrtausenden nicht mehr gab: Der gesamte Klimakorridor verschiebt sich. Das ist keine der schon öfter erlebten vorübergehenden Schwankungen, sondern eine von der industriellen Zivilisation selbst verursachte Klimaveränderung grundlegenden und weltumspannenden Charakters. Sie wird Jahrhunderte, wahrscheinlich Jahrtausende anhalten – wird die menschliche Lebensart so oder so umwälzen.

Der Prozess läuft bereits – die Häufung extremer Wetterereignisse sowie langer Phasen ungewöhnlicher Witterungen rund um den Planeten belegt es. Offen ist noch das Ausmaß, das die Veränderung annehmen wird: Sind es „nur“ die kaum mehr verhinderbaren 1,5 bis 2 Grad Aufheizung? Oder werden es drei Grad, gar vier und mehr? Da die Veränderung menschengemacht ist, hat es die Menschheit auch selbst in der Hand, das Ausmaß der Veränderung zu bestimmen: auf einen „niedrigen“ 2-Grad-Level mit gleichwohl tausenderlei katastrophischen und die Lebensbedingungen verändernden Wirkungen, oder auf einen höheren Level, der den Bestand bisheriger Menschheitskultur als Ganzes bedroht.

Ein Blick auf die ärmeren Weltgegenden mit klimatischen Verhältnissen ohnehin im Randbereich des Klimakorridors zeigt, was vielen Teilen der Erde droht: Die Verschiebung des Korridors beraubt schon jetzt etwa in Afrika Millionen Menschen ihrer Lebensgrundlage, weil dauerhafte Dürre Ackerbau und Viehzucht unmöglich machen. Vormalige Kleinbauern werden zu Klimaflüchtlingen; die dortigen Gemeinschaften zerfallen; sämtliche ethnischen, politischen, sozialen Reibungen verschärfen sich, beschleunigen ihrerseits gesellschaftliche Destabilisierung. Anarchie und existenzielles Elend breiten sich aus. Und wo noch nicht die direkten Wirkungen des Klimawandels vor allem die ärmeren Menschen malträtieren, ist es der immense Hunger internationaler Agrarindustrien nach Anbauflächen: Für Nahrungsmitteln, die nachher außer Landes geschafft werden sowie für Viehfutter für den Weltmarkt, um das globale ständig wachsende Übermaß an Fleischkonsum zu bedienen.

Es ist einer der großen Irrtümer „moderner“ Landwirtschaft, man könne ohne Einbindung in die natürliche Biosphäre der Erde dauerhaft den ertragreichsten Ackerbau betreiben. Man könne fast problemlos sogar eine zehn, zwölf oder mehr Milliarden Köpfe zählende Weltbevölkerung ernähren – wenn nur die Anbaufläche groß genug ist und so intensiv wie möglich bewirtschaftet wird. Auf Grundlage dieser Denkart entstanden seit dem späten 19. Jahrhundert und schließlich mit der Erfindung des chemischen Kunstdüngers riesige, monokulterell bebaute Felder. Die von zahllosen Bauerngenerationen praktizierte Kompromisslinie aus Fruchtwechselwirtschaft auf eher kleinteiligen Ackerparzellen zwischen naturnahem Rain- und Inselbewuchs war perdu.

Der Hunger nach immer neuen Anbau- und Weideflächen unterwirft immer größere Teile von Naturräumen der „Kultivierung“. Sodass in der Gegenwart die irdischen Biosphäre von fünf Seiten in die Mangel genommen wird: 1. Flächenforderung durch expandierende Landwirtschaft. 2. Flächenforderung durch expandierende Bebauung mit Häusern, Fabriken, Geschäften, Straßen. 3. Schädigung durch chemische Hilfsmittel in der Landwirtschaft. 4. Planetare und atmosphärische Schädigung durch Abfallstoffe expandierender Produktion und Konsumption. Schließlich 5. durch den Klimawandel.

Ein Ergebnis all dieser Faktoren ist eine Großkrise, die ebenso schwer wiegt wie der Klimawandel: das Artensterben. Fast im Stundentakt verschwinden ganze Insektenpopulationen endgültig. Es vergeht kaum eine Woche, in dem nicht auch höhere Lebensformen dieses Schicksal teilen. Und jede untergehende Art reißt neuerlich eine Lücke in das über Jahrhunderttausende entstandene Funktions-Netzwerk der Biodiversität, der auf ausgewogene Vielfalt gebauten Natur.

Muss uns das, abgesehen von naturliebendem Bedauern, beunruhigen? Ja. Denn auch die Existenz des Homo sapiens hängt ab vom Funktionieren der biologischen Vielfalt. Ohne sie keine Urwälder und belebten Ozeane; ohne sie keine CO2-Bindung und letztlich auch keine Sauerstoffproduktion. Und wenn beispielsweise Bakterien, Würmer, Pilze keinen Humus mehr bilden, verkommt die Ackerkrume zu toter Masse, auf der ohne Zuführung energieaufwändig hergestellter Hilfsstoffe bald nichts mehr wächst. Wenn die bestäubenden Insekten ausbleiben, muss Menschenhand Abermilliarden Blüten befruchten. So mittlerweile auf Obstplantagen in China. Oder es müssen, wie in den USA, lastwagenweise Bienenvölker von Plantage zu Plantage kutschiert werden. Alternativen für die Ernährung von Millarden Menschen sind das nicht, bestenfalls vorübergehende Notlösungen.

Der rücksichtlose Zugriff des Menschen auf die Biosphäre beschert uns dieser Tage eine weitere weltumspannende Großkrise: die Corona-Pandemie. Getrieben von Flächen- und Ressourcenhunger dringen wir auch in die letzten urtümlichen Naturrefugien vor und begegnen dort uns krank machenden Organismen. Aus ihrer weltabgeschiedenen Isolation gerissen, durchseuchen sie in Windeseile die Weltbevölkerung. Unser Körper hat von sich aus den „fremden“ Erregern so wenig entgegenzusetzen wie dereinst die indigenen Völker Amerikas den aus Europa eingeschleppten Pocken. Der Mensch muss nun künstliche Gegenmittel entwickeln, um Gefahren zu bannen, die er selbst heraufbeschworen hat. Der gleiche Mechanismus steht uns mit dem Auftauen der Permafrost-Böden ins Haus: Viren und Bakterien, mit denen unsere Spezie seit Jahrzehntausenden nicht mehr oder noch nie zu tun hatte, werden in die heutige Welt entlassen.

Es sind die vom Menschen zu lange missachteten oder missbrauchten Naturgesetze selbst, die uns heute vor eine in letzter Konsequenz sehr simple, aber unausweichliche Wahlmöglichkeit stellen: Entweder den Weg des vermeintlich „ewigen“ Wachstums verlassen und die menschliche Lebensart zügig so grundlegend umformen, dass sie zu einer nachhaltigen Partnerschaft mit der Natur wird. Oder dies nicht zu tun und hinzunehmen, dass die Menschheit weiter in eine Epoche hineinschlittert, die noch in diesem Jahrhundert von geordneter Zivilisation kaum mehr etwas übriglassen dürfte.

Entscheiden wir uns gegen Letzteres, wäre das die Entscheidung für eine Änderung der Zivilsationsentwicklung hin zur Schrumpfung, hin auch zur Wohlstandssuche jenseits des bloß Materiellen. Weniger Ressourcen- und Flächenverbrauch, weniger Luxuskonsum, weniger Abfälle – ja, auch weniger Geburten. Und weil bei den Armen viel weniger gar nicht geht, wird es auch nicht möglich sein, dass die Superreichen zu deren Ungunsten weiter immer umfassbare Finanzkräfte in ihren Händen konzentrieren.

Die Devise heißt: Neuanfang mit Anpassung aller an die Erfordernisse von Klimawandel und Artenschutz, zugleich Entschärfung der gewaltigen sozialen Kluft zwischen reichen und armen Ländern wie zwischen reichen und armen Individuen. Die Menschheit kann sich bemühen, das halbwegs geordnet und vernünftig auf den Weg zu bringen. Andernfalls werden die Naturgesetze und die sozialen Widersprüche alsbald auf brutalste Art zwangsweise die Endzeit bisheriger Zivilisation einläuten.

Andreas Pecht

12 100 Anschläge. Erstpublikation am 3.1.2022 in Rhein-Zeitung

Andreas Pecht

Kulturjournalist i.R.

, , , , , ,

Archiv chronologisch

Archiv thematisch