Portrait Andreas Pecht

Andreas Pecht – Kulturjournalist i.R.

Analysen, Berichte, Essays, Kolumnen, Kommentare, Kritiken, Reportagen – zu Kultur, Politik und Geistesleben

Auf die Boomer folgen die Knicker („Quergedanken“)

Monatskolumne Nr. 212, März 2023

„Ihr seid an allem schuld“, giftet Walter. Er setzt mir den Zeigefinger der Belehrung und Beschuldigung auf die Brust: „Ihr seid zu viele, habt zu wenige Kinder gezeugt, geht dieser Tage alle zu früh in Rente und lebt nachher auch noch zu lange.“ Hä?! Wie bitte?! Wer ist „ihr“? Als der Freund die Zielgruppe seines Vorwurfs mit „Babyboomer“ umreißt, gehe ich hoch wie dereinst das HB-Männchen. Denn als 1955er gehöre ich zum ersten der zehn geburtenstärksten Nachkriegsjahrgänge, die gemeinhin Babyboomer genannt werden. Und dieser meiner Altersgruppe, die jetzt mit zwei Jahren Zwangsverspätung in Rente geht, wird nun die Schuld dafür in die Schuhe geschoben, dass es allüberall an Arbeitskräften mangelt. Und das „urplötzlich“ so sehr, als hätten die jüngst zahlreich auftauchenden UFOs bereits jede Menge Leute vom Erdboden verschwinden lassen.

Fast kracht es zwischen Walter und mir; es dauert etwas bis ich den ironischen Schalk in seiner Visage erkenne. Er spielt mal wieder den Teufelsadvokaten, kotzt all jene Unverschämtheiten aus, aus denen das Langzeitversagen von Politik- und Wirtschaftslenkern sich ein Unschuldsgewand schneidert. Mal Hand aufs Herz: Seit wann ist bekannt, dass in den 2020er-Jahren das Gros der geburtenstärksten Jahrgänge in den Ruhestand gehen wird? Seit etwa 50 Jahren! Seit nämlich mit dem Eintreten des Pillenknicks und dem Beginn diverser Emanzipationsbewegungen klar wurde: Die Geburtenrate sinkt, wird auf sehr lange Zeit, wenn überhaupt jemals, das Niveau der Boomer-Jahre nicht mehr erreichen.

Welche Vorbereitungen wurden über fünf Jahrzehnte für die aktuelle Umbruch-Dekade getroffen? Im Grunde gar keine. Man ließ alles laufen, weil Zukunft ja erst irgendwann ist und Gegenwart andere Interessen hat. Oder sagen wir so: Man lebte stets von der Hand in den Mund, getreu dem Marktprinzip vom Primat des kurzzeitigen Optimums. Beispiel: So alle 25 Jahre stürzt unser Schulwesen ins Jammertal des Lehrermangels. Niemand scheint das kommen zu sehen – obwohl sich mit den Grundrechenarten aus Geburtsregistern und der Lehrer-Alterstruktur der künftige Lehrerbedarf simpel ermitteln ließe. Man kann das, mit ein paar Schwankungsprozenten, auf viele Berufsgruppen übertragen, und könnte (hätte können) daraus frühzeitig allerhand Planungsinitiativen entwickeln.

Aber, ach je, planen, auch noch langfristig, in Wirtschaft und Politik gleichermaßen – ein feuchtes Träumchen nur. Immerhin drei Langfristkomponenten wurden ins Werk gesetzt: Erhöhung des Renteneintrittsalters, Erhöhung der Rentenbeiträge und Senkung des Rentenniveaus. Derartiger Ideenreichtum verdient ein „dreifach donnerndes …“. Alternativlos soll diese hässliche Rentenkrempellage obendrein sein, von wegen der Kosten. Nur mal so gefragt: Während der Lebenszeit der Boomer verdoppelte bis verfünffachte sich die Produktivität je Arbeitnehmer. Wo ist das Mehr an Arbeitsergebnis eigentlich hingekommen? An der Finanzierung des wohlverdienten Ruhestandes von Millionen wird es offenbar nicht beteiligt.

Übrigens: Der Blindflug geht weiter. Wenn in 15, 20 Jahren das Aussterben der Babyboomer anhebt und die Pillenknicker bis in die Altersheime das Bild bestimmen, was dann? Darüber scheint sich in den Oberetagen schon wieder kein Mensch einen Kopf zu machen. Doch Walter meint: „Reg dich nicht auf, das wirst du als Boomer dann nicht mehr erleben, sondern ich, der Knicker, ausbaden müssen.“

Andreas Pecht

Kulturjournalist i.R.

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