Portrait Andreas Pecht

Andreas Pecht – Kulturjournalist i.R.

Analysen, Berichte, Essays, Kolumnen, Kommentare, Kritiken, Reportagen – zu Kultur, Politik und Geistesleben

Die Neuinfektionen laufen aus dem Ruder

ape. Wäre ich religiös, würde ich spätestens jetzt anfangen, zu beten – der liebe Gott möge Sorge tragen, dass der beschlossene Teil-Lockdown wenigstens halbwegs erbringe, was man sich erhofft. Falls nämlich nicht, werden wir zu Weihnachten niemanden aus dem Kreis des dann noch gesunden Klinikpersonals daheim bei seinen Lieben vorfinden. Mehr noch: Sollte der Teil-Lockdown seine Wirkung verfehlen, könnten wir alle Weihnachten unter den Notstandsbedingungen eines Generallockdowns „feiern“ müssen.

Alarmismus, Panikmache? Nein, nur schnöde Mathematik, die die bis dato ungebrochene epidemologisch naturgesetzliche Entwicklung des Infektionsgeschehens weiterrechnet. Hierzulande hat sich die Zahl der täglichen Neuinfektionen im Oktober von Woche zu Woche verdoppelt. Bis eben. Die 19 000 vom Freitag zeugen jedoch von einer aktuellen Beschleunigung des Infektionsgeschehens deutlich über die Verdoppelungsquote pro Woche hinaus. Danach sind schon kommenden Samstag mehr als 40 000 Neuinfektionen eine durchaus realistische Befürchtung, 80 000 in der Folgewoche … – wenn der Teil-Lockdown die Entwicklung nicht dämpft.

Vor diesem Hintergrund ist es nur zu verständlich, dass die Warnungen der deutschen Klinikchefs und Intensivmediziner von Tag zu Tag dringlicher werden. Denn zeitlich etwas nachlaufend entwickelt sich die Zahl der klinischen Patienten und intensivmedizischen Behandlungsfälle in gleicher Relation wie das Infektionsgeschehen. Treffend sagte jüngst ein Mainzer Krankenhaus-Chefarzt: „Der Kampf kann nicht in den Kliniken gewonnen werden, sondern nur davor.“ Sollte der Teil-Lockdown nicht die gewünschte Wirkung zeitigen, übernimmt das Virus selbst die Diskurshoheit im Land – und spätesten zu Weihnachten werden wir dann im Rückblick über alle heutigen Debatten zu diesen oder jenen Maßnahmen nur noch den Kopf schütteln.

Und dennoch gibt es noch immer einige Leute, die die Pandemie vornehmlich als Spielplatz für ideologische Kämpfe (Krämpfe) benutzen. Doch die Seuche ist kein Spiel, sondern bitterer Ernst – egal wer wo auf Erden welches Gesellschaftssystem auch immer regiert. Das Virus macht da keinen Unterschied. Und bitterer Ernst ist es auch für all jene, zu deren Selbstverständnis als zivilisierter Mensch Mitgefühl, gemeinschaftliches Verantwortungsgefühl, sozialhumane Solidarität gehören. Jene große Mehrheit also, für die es nicht diskutabel ist, abertausende Mitmenschen unnötigen Schwersterkankungen oder unnötig verfrühtem Sterben zu überlassen – um auf „natürlichem Wege“ (Auslese der Schwächeren) zur Immunität der Hauptherde zu gelangen.

Andreas Pecht

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