Portrait Andreas Pecht

Andreas Pecht – Kulturjournalist i.R.

Analysen, Berichte, Essays, Kolumnen, Kommentare, Kritiken, Reportagen – zu Kultur, Politik und Geistesleben

Heldinnen und Matschbirnen

ape. ES treibt wieder sein Unwesen. Alle Jahre im Herbst der gleiche Zirkus. Statt in die Schule, ins Büro, an die Werkbank oder auf die Bühne zu gehen, bleiben Hunderttausende einfach im Bett. Sie liegen darnieder, hingestreckt von ES. Also werden Küchen zu Waffenschmieden gegen diesen Feind, der selbst zwar unsichtbar bleibt, dessen heimtückisches Wirken aber die Opfer umso ärger zeichnet. Auf den Herden blubbern Tees, dampfen Inhalations-Sud und Hühnersuppe literweise. Die Wohnungen miefen nach Eukalyptus und Pfefferminze; therapeutisches Rotlicht färbt Bürgerstuben puffig; Mülleimer quellen über von durchweichten Taschentüchern; die Arztpraxen sind proppevoll und in den Apotheken klingeln die Kassen.

ES kommt drei Tage, ES steht drei Tage, ES geht drei Tage. So sagt der Volksmund seit Menschengedenken. Und seltsamerweise hat sich daran bis heute kaum was geändert. Moderne Pharmazie kann einzelne Symptome manchmal ein bisschen dämpfen. Auf die Dauer der Malaise scheint sie indes so viel oder so wenig Einfluss zu haben wie Omas Kraftbrühe, des Hexenweibleins Kräutertrank, druidischer Heilzauber oder katholisches Gesundbeten. „Da musst du halt durch!” gibt Walters derzeitige Lebensabschnittsgefährtin ihrem Gesponst knapp Bescheid. Das klingt ein bisschen kiebig, um nicht zu sagen: recht ungehalten. Was man verstehen kann, denn der Freund lümmelt schon den dritten Tagen dick verpackt auf dem Kanapee herum und – wehleidet, lamentiert, nörgelt, grantelt, jammert, greint in einem fort zum Steinerweichen.

Interessante Beobachtung: Ihr geht es sichtlich schlechter als ihm, dennoch schmeißt sie mit stoischem Gleichmut den gemeinsamen Laden, hatte in den ersten beiden Tagen sogar noch manches mitleidige oder aufrichtende Trösterchen für den Burschen übrig. Wer das so sieht, möchte die Sprache mal wieder der Lüge zeihen und ab sofort vom „gestandenen Frauenzimmer” reden, statt weiterhin dem Mannsbild das unverdiente Stärke-Adjektiv zu belassen. „Spinnst du!”, zetert Walter, als er mitkriegt, was ich schreibe. „Du hast ja keine Ahnung wie mies ich mich fühle. Der Husten, der Schnupfen, der Brummschädel, der Hals- und der Gliederschmerz: Das alles ist zusammen doch kaum auszuhalten.”

Die Holde verdreht hinter seinem Rücken entnervt die Augen. Derweil fällt mir etwas auf: Die deutsche Sprache weist sämtlichen Einzelsymptomen das männliche Geschlecht zu; der Husten, der Schnupfen, der, der… Die Summe aller Quälgeister ist umgangssprachlich dann jedoch weiblich: die Erkältung, die Grippe, die Kränk‘, die Bibs. Walter würde, wenn man ihn ließe, dies Phänomen vielleicht so deuten: Der Mann ist eben nur für kleinere Wehwehchen verantwortlich, die Frau hingegen fürs große Elend. Mir käme das angesichts der in seiner Heimstatt vorgefundenen Verhältnisse allerdings recht absurd vor. Weshalb ich mich entschlossen habe, den allherbstlichen Feind zum Neutrum zu gendern und nunmehr ES zu nennen.

Ein paar Tage später merke ich, wie die Augen zu tränen, die Nase zu sutschen, die Bronchien zu stänkern beginnen und ein traniger Schleier das Hirn zur Matschbirne macht. Ach, wie elend ist mir plötzlich. Und läutet da nicht von ferne schon das Totenglöckchen? Oh hilf, liebe Frau, bitt‘ ich daheim. Darauf sagt mein Engel in ungerührter Sachlichkeit: „Drei Tage kommt sie, drei Tage steht sie, drei Tage geht sie. Da musst du jetzt durch. Stell dich nicht so an.” Ach…

(Erstabdruck/-veröffentlichung außerhalb dieser website 44. Woche im Oktober/November 2015)

Andreas Pecht

Kulturjournalist i.R.

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