Portrait Andreas Pecht

Andreas Pecht – Kulturjournalist i.R.

Analysen, Berichte, Essays, Kolumnen, Kommentare, Kritiken, Reportagen – zu Kultur, Politik und Geistesleben

Der Kritiker, das unbekannte Wesen

Gefragt, ob Literat und Literaturkritiker auch Freunde sein können, pflegt Marcel Reich-Ranicki zu antworten, sinngemäß: Im Ausnahmefall ja, sofern der Kritiker niemals Bücher des Freundes rezensiert. Im Regelfall nein, weil Schriftsteller nur gelobt werden wollen – immer, alle. Was MRR aus Erfahrung für die Poeten anführt, lässt sich auf sämtliche Kunstsparten übertragen: Künstler wollen gelobt werden. Das ist menschlich, schließlich müssen sie von sich überzeugt sein, andernfalls nie ein Künstler irgendeine Bühne betreten könnte. Gelegentliche Selbstzweifel sprechen nicht dagegen, sie gehören zum künstlerischen Schaffensprozess wie ein gerüttelt Maß Eitelkeit auch.

Tatsächlich herrscht an Lob ja kein Mangel, zumal in heimischen Gefilden. In 30 Jahren habe ich unter Hunderten von Theateraufführungen, Konzerten, Vernissagen und Lesungen am Mittelrhein keine Veranstaltung erlebt, die den Akteuren Beifall verweigert oder sie gar ausgebuht hätte. Das ist anderswo anders: In den Schauspielhäusern von Köln und Frankfurt etwa kann Premierenbeifall niederschmetternd knapp und spröde ausfallen. Aus diversen Opernhäusern wird häufiger gar von lautstarken Missfallenskundgebungen berichtet. Und erst die Kritiken nachher in Zeitungen und Radio: Da gibt’s bisweilen aus zwei, drei Dutzend Federn richtig Haue. Kennt man alles so nicht am Mittelrhein. Sollte das am Ende der Beweis für stets makellose Spitzenqualität im hiesigen Kunstschaffen sein?

Könnte man meinen, würden nicht doch gelegentlich – die hierorts leider spärlich gesäten – Vertreter der Kritikerzunft etwas Essig in den Wein regionaler Glückseligkeit träufeln. Gehört sich denn das, ja dürfen die denn das überhaupt? Auf Freikarte inmitten der besten Plätze hocken, aber nachher meckern und sozusagen das eigene Nest beschmutzen? Antwort: Wenn sie die Darbietung für schlecht halten, dürfen sie nicht nur, sie müssen sogar. Denn Kritik ist ihr Aufgabe, und Kritik meint nicht, mit Engelszungen säuseln oder „keinem Wohl und Wehe“, sondern meint: beurteilen, beanstanden, entscheiden (hergeleitet vom griechischen Verb krínein und vom Substantiv kritiké , das als „Kunst der Beurteilung“ übersetzt wird).

Dabei kommt mal hohes Lob, mal scharfe Ablehnung, (viel zu) oft ein „So-la-la“ heraus. Wie gelangt der Kritiker zu solchen Urteilen? Indem er sich um den Publikumsapplaus nicht kümmert, sich gegen die Hübschheit der Darsteller/in verschließt und sich von niemandem einreden lässt, was er sehen und hören oder schreiben soll. Am Ende steht er mit seinen Kenntnissen, Erfahrungen, Maßstäben sowieso allein dem Kunstgeschehen gegenüber, sitzt  anderntags noch alleiner am PC, um zu tun, was alle Welt von ihm verlangt:  Als einziger vor aller Öffentlichkeit ein persönliches Urteil ausbreiten und es begründen. Wie immer das auch ausfällt, irgendjemand wird ihm dann doch vorwerfen, keine Ahnung zu haben oder böse Absichten zu verfolgen. Im Falle des Tadels kommen diese Vorwürfe von den Getadelten und aus jenem Publikumsteil, dem es gefallen hat. Im Falle des Lobes von neidischen Künstlern und von Besuchern, denen es nicht gefallen hat.

Dieses Dilemma ist so alt wie die Kritik selbst, und der Kritiker hat nur zwei Möglichkeiten, ihm zu entrinnen. Erstens: Seinen Platz zwischen allen Stühlen mit selbstbewusster Dickfelligkeit auszufüllen. Zweitens: Schweigen. Theoretisch gibt es noch einen dritten Weg: Werbliche  Gefälligkeitsberichte publizieren. Das wird heute vielfach getan, ist auch kaum verwerflich, solange nicht behauptet wird, es handle sich dabei um Kritiken. Werbung gehört nun mal weder zu den Kriterien noch den Aufgaben der Kunstkritik. Außerdem: Es mag  zwar nett gemeint sein, dem Kritiker maßgeblichen Einfluss auf Besucherzahlen nachzusagen. De facto indes: Zu viel der Ehre! Die Bedeutung simpler Flüsterpropaganda liegt da auf Sicht um ein Vielfaches höher – im Guten wie im Schlechten. Theater, Konzertarenen, Museen werden nicht voll oder leer geschrieben, sondern letztlich voll oder leer „gespielt“.

Kritik muss dennoch sein, sagen Kulturfans und Künstler ebenso. Nun gut. Aber, Freunde, denkt daran: Kritiker haben Urteile zu fällen – und die werden Euch nicht immer zusagen. Kritik gibt es nur ganz oder gar nicht, sie ist entweder geistig unabhängig oder es ist keine. Das übrigens hat sie gemeinsam mit ihrem Gegenstand, der Kunst.  

Andreas Pecht

Kulturjournalist i.R.

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