Festrede, gehalten beim öffentlichen Abendteil der Jubiläumsfeiern am 15. Oktober 2016 in der Kulturfabrik Koblenz (unkorrigiertes Redemanuskript)
Redaktionelle Vorbemerkung:
Dank eines Versehens konnte ich meine kleine Festrede, statt am Nachmittag vor geladenen Gästen und Honoratioren, am Abend vor „allem Volk“ halten. Denn vom Vorstand des Jugendtheaters war ich zwar für den Offizialakt eingeplant und dort auch angekündigt, mich selbst aber hatte man irrtümlich auf die Anfangszeit der anschließenden öffentlichen Feier bestellt. Während der Redner also nachmittags in der Kufa vermisst wurde, lag er unschuldig daheim auf dem Sofa – um dann abends ausgeruht und in gewohnter Überpünktlichkeit auf der Matte zu stehen. Nachfolgend nun für alle die Festrede im Wortlaut. (ape)
Redetext:
Meine Damen und Herrn, liebe Freunde und auch Andersdenkende,
anlässlich der heutigen Jubiläumsfeier setze ich ausnahmsweise mal eine goldene Regel meiner Zunft außer Kraft. Die da lautet: Der Theaterkritiker soll nicht auf die Theaterbühne steigen – Weil: Da ist er zu nix nutze.
Sein angestammter Platz ist dort unten im Parkett. Jedoch nicht in der ersten Reihe bei den Honoratioren. Denn da wird man zwar beim Aufgallopp gesehen, ist auch am Bühnengeschehen hautnah dran – verliert aber allzu oft das Große und Ganze aus den Augen.
Also hockt der Kritiker meist irgendwo mittendrin, wo man ihn nicht sieht, er aber die Bühne in ihrer Gesamtheit am besten einsehen kann. Von dort verfolgte ich vor allem in den Anfangsjahren des Koblenzer Jugendtheaters viele seiner Premieren hier im großen Saal der Kulturfabrik. Späterhin wurden die Besuche etwas seltener – denn die Bürgerinitiative Jugendtheater hatte ihre solide und stabile Kontinuität unter Beweis gestellt, und mich selbst riefen die Berufspflichten vermehrt zu anderen Einsatzorten.
Aber vielleicht ist es gar nicht schlecht, dass Dieter Servatius für diesen Abend einen als Festredner engagiert hat, der nicht zum inneren Kreis oder zur festen Fan-Gemeinde des Jugendtheaters gehört. Einen, der zwar mit wohlwollendem, aber stets auch distanziertem Auge das Werden, Gedeihen und bemerkenswert langjährige Dasein dieser Initiative verfolgt hat, die längst ein selbstverständlicher Teil des Koblenzer Kulturlebens geworden ist.
Einen historischen Abriss der 25 Jahre Jugendtheater-Geschichte erlasse ich mir und Ihnen. Stattdessen will ich ein bisschen in Erinnerungen an die frühen Jahre schwelgen – und daraus ableiten, was aus meiner Sicht die Jugendtheaterwelt im Innersten zusammenhält.
Ich sah hier dazumal Kinder und Jugendliche erstmals Theater spielen, die inzwischen Erwachsene in der mittleren Generation sind. Sie haben teils schon selbst Kinder, die jetzt oder demnächst hier mitspielen können. Ich sah damals zwei junge Burschen, die nachher im Geschwindschritt alterten und inzwischen als Willi und Ernst die Speerspitze der betagten Grantel-Rentner am Mittelrhein bilden. Dirk Zimmer war damals noch ein Rotzlöffel, während Giorgina Kazungu die Zuhörer schon als junges Mädchen mit gewaltiger Stimme vom Stuhl haute. „Die Kleine MUSST du hören”, so der dringliche Hinweis des Kollegen Michael Stoll seinerzeit via Flurfunk der Rhein-Zeitungs-Redaktion. Heute sitzt Giorgina im Mainzer Landtag, lebt mit Familie in der Pfalz, kann und will aber vom Singen nicht lassen – wie neulich beim Lahnsteiner Bluesfestival erlebbar.
Das sind so Erinnerungen, die einem an solch einem Tag kommen. Etwa auch an jene Premiere eines Musicals, dessen Titel mir entfallen ist. Dort hinten links saß ich mit meinem alten Freund Uwe Carstensen, seinerzeit Chef der Theaterabteilung beim S.Fischer-Verlag. Und der Gute kriegte Schnappatmung beim Auftritt von Christina Gassen als Tiger-Girl. So wie ich selbst über die Jahre immer wieder staunend nach Luft schnappte, wenn ich sah und spürte mit welch unglaublicher Intensität und Hingabe die jungen Leute in der Kufa oft aufspielten.
Häufig kamen in der Pause oder nach der Vorstellung begeisterte erwachsene Zuschauer zu mir und fragten: „Sind die hier nicht besser als die drüben?” Mit drüben war das Stadttheater gemeint. Ich aber wusste nie, was darauf zu antworten wäre. Es dauerte zwei, drei Jahre, bis ich begriffen hatte, dass es auf diese Frage weder eine ehrliche noch eine diplomatische Antwort geben kann. Es gibt einfach gar keine vernünftige Antwort darauf.
Denn diese Frage ist per se völlig falsch, weil sie Äpfel und Birnen, oder sagen wir es drastischer: weil sie Apfelkuchen und Birnenschnaps miteinander vergleicht. Ich mag beides sehr gerne – Apfelkuchen und sowieso Birnenschnaps. Aber die Geschmackserlebnisse (und die Folgewirkungen) sind derart grundverschieden, dass ein wertender Vergleich sich von selbst verbietet. Und genau das gilt auch für Jugendtheater hier versus Stadttheater dort. Das sind zwei ganz eigene Theaterwelten mit Theatererlebnissen völlig unterschiedlicher und nicht vergleichbarer Art.
Womit ich bei einem großen Missverständnis wäre, das im Zusammenhang mit dem Jugendtheater über die gesamten 25 Jahre immer wieder auftauchte. Es gibt nicht wenige Leute, die betrachten das Jugendtheater als Vorstufe oder als Talentschuppen für das „richtige” Theater. Sie verstehen das Jugendtheater als eine Art Sprungbrett für den Bühnennachwuchs. Sie betrachten es als unterste Stufe der Karriereleiter für eine Bühnenlaufbahn ihrer oder anderer Leute Sprösslinge.
Folgerichtig ist die Begeisterung solcher Zuschauer dann am heftigsten, wenn etwa eine Musicalproduktion glatt, elegant, semiprofessionell den Vorbildern aus der großen Musicalwelt klanglich, spielerisch, szenisch möglichst nahe kommt. Das Dumme an der Sache ist: Wer nach solchen Erwartungen und Kategorien hier Jugendtheater schaut, dem entgeht das Ureigentliche und wirklich Faszinierende des Jugendtheaters.
Und das besteht worin? Es besteht in der Freisetzung des kindlichen und jugendlichen Rollenspieltriebs; in der ganz eigenen Energie und Dynamik jugendlichen Theaterspiels. Das Faszinosum des Jugendtheaters rührt vom Esprit, ja dem Charisma, das junge Leute dann entfalten können, wenn sie mit ganzem Herzen bei einer Sache sind; es rührt auch von der aufgeregten, manchmal beklommenen Freude, mit der sie selbst kleinste Rollen füllen.
Zu sehen, zu erleben, welchen Drive eine Inszenierung dadurch gewinnen kann, welche enorme Ausstrahlung mancher Jungakteur dabei entwickelt, das ist hinreißend. Und: Das stellt die naturgemäß begrenzt bleibenden Spieltechniken und Ausdrucksmöglichkeiten der Jugendlichen, die ja trotz allem Amateure sind, in den Schatten. Die besten Produktionen, die ich hier sah, waren übrigens jene, die nicht Vorbildern, Spielarten, Ästhetiken aus der großen Theaterwelt nacheiferten, sondern die ihr ganz eigenes Ding machten.
So eine Jugendtheaterproduktion ist für die meisten der Mitwirkenden auf, neben, hinter der Bühne das größte Abenteuer ihres bisherigen Lebens; und bei manchem bleibt es das auch für das ganze nachfolgende Leben. Für alle ist es eine der wertvollsten Jugenderinnerungen – an eine Herausforderung, ein Gemeinschaftserlebnis, ein Geschenk, so eigenartig und wunderlich, so herrlich von jeder Nützlichkeitserwägung frei wie kaum ein anderes sonst.
Aus dieser fürs Jugendtheater typischen Gemengelage ergibt sich auch immer die zentrale Aufgabenstellung für Regisseure und Spielleiter. Sie sollen die Jugendlichen nicht in ihre professionelle Erwachsenenvorstellung von dieser oder jener Rolle quetschen, pressen, zwingen. Sie sollen die jungen Leute nicht umformen wollen, anderes aus ihnen machen wollen, als sie sind.
Die tatsächliche Herausforderung und Kunst für die Profi-Spielleiter im Umgang mit den jugendlichen Bühnenamateuren besteht darin: deren individuelle Anlagen, Naturelle, Talente zu erahnen, zu erkennen; sie zu motivieren, freizulegen, zu verstärken – um dann ein Rollentableau zu entwerfen, das zu diesen Eigenschaften passt und ihre optimale spielerische Entfaltung ermöglicht.
Das ist im Grunde ein ziemlich anderer Vorgang als bei der Arbeit mit Profischauspielern. Die nämlich tragen einen ganzen Werkzeugkasten erlernter Spielfertigkeiten und Ausdrucksmöglichkeiten mit sich. Darauf kann die Regie bauen, um zu DEM Ergebnis zu kommen, das ihr vorschwebt. Das geht im Jugendtheater so nicht. Beziehungsweise: Es geht schief, wenn es doch einer versucht. Zumal es vermessen wäre zu glauben, man könne jungen Amateuranfängern in ein paar Probewochen beibiegen, was Profis in jahrelangem Gesangstudium oder auf der Schauspielschule sich mühsam angeeignet haben.
Der Hauptstoff, aus dem das Jugendtheater bei jeder Produktion stets aufs Neue erwächst, das sind: Lust am Spiel, Enthusiasmus, jugendliche Dynamik und Freude am gemeinsamen kreativen Tun im Dienste eines gemeinsamen Projektes. Daraus müssen die Regisseure was machen. Dafür schaffen die Freunde und Sponsoren des Koblenzer Jugendtheaters den Rahmen.
Es ist ein großes Glück, dass über all die Jahre mit den Jugendlichen hier sehr viele Profikünstler arbeiteten, die das Besondere dieser spezifischen Theaterform verstanden haben. Und die mit den Eigenarten ihrer jungen Akteure fabelhaft umzugehen wussten. Einige dieser Künstler aus der Frühphase des Koblenzer Jugendtheaters seien stellvertretend für alle anderen genannt. Ihnen bin ich auch in späteren Jahren und in teils ganz anderen Kulturzusammenhängen immer wieder begegnet:
Manfred Molitorisz und Madeleine Schröder etwa. Oder Knacki Deuser, der heute auf allen Comedybühnen daheim ist. Ralf Lohr und Maike Krause. Natürlich Dominique Caillat, die uns neben ihren Arbeiten beim Jugendtheater schöne Kinderproduktionen auf Burg Namedy und Historieninszenierungen auf der Festung Ehrenbreitstein hinterlassen hat. Sowieso und in ganz besonderem Maße unser Freund Toni Taylor. Der wusste den natürlichen Spiel- und Tanztrieb der Jugend wunderbar zu kitzeln und zu nutzen, wurde dafür immer und von fast jedem, mit dem er hier arbeitete, heiß und innig geliebt.
Schließlich der heute in der Theaterwelt bekannteste von allen: Georges Delnon, nacheinander Intendant der Theater Koblenz, Mainz, Basel – und jetzt Chef der Hamburgischen Staatsoper. Er stellte im Koblenzer Jugendtheater eine der beiden einzigen Schauspielinszenierungen auf die Beine, die er in seiner Koblenzer Zeit und seither je gemacht hat. Nach „König Ubu” hier auf dieser Bühne, verschrieb sich Georges – trotz meines Schimpfens und Bittens – völlig dem Opernfach.
„König Ubu” war in Delnons Jugendtheaterinszenierung vielleicht einer der denkwürdigsten Premierenabende in diesem Saal: vor wildem Spieltrieb tobend, von hemmungslos entfesselter Jugendkraft überschäumend, giftig, spöttisch, hinterfotzig, ätzend. Und unvergesslich der finale Aufstand mit Suppenkelle, Nudelholz, Kartoffelsieb und Klobürste. „Scheitze, scheitze”, war das gut. Der vorgestern verstorbene Autor des Stückes, Literaturnobelpreisträger Dario Fo, hätte an dieser furiosen Vorstellung seine helle Freude gehabt.
Doch genug der Nostalgie.
Meine Damen und Herrn, liebe Freunde – sowie nun nicht mehr oder vielleicht erst recht Andersdenkende:
Wenn gelegentlich eine Jugendtheater-Elevin oder ein Eleve den Weg ins professionelle Theaterfach findet, dort gar in die vorderen Reihen vordringt, ist das eine schöne Sache, über die sich alle hier freuen. Aber es ist nicht das Wichtigste! Es ist nicht der Daseinszweck dieses Jugendtheaters, Bühnenstars hervorzubringen! Das Jugendtheater ist nicht der Ernst des Lebens. Und seine Aufgabe, davon bin ich fest überzeugt, ist es auch nicht, Institution zur Vorbereitung auf den Ernst des Lebens zu sein.
Vielmehr erscheint mir das Jugendtheater als eine widerständige Insel inmitten der allgemeinen Flut aus Nützlichkeitszwängen und Konkurrenz-Battles. Es ist ein Freiraum, ein freier Raum – in dem junge Leute ihrer und anderer Kreativität begegnen, mit ihr spielen, sie auskosten. Ein Freiraum in dem die jugendlichen Gemeinschaftsgeist und die Kraft gemeinschaftlichen Tuns erleben. Ein freier Raum in dem sie die Freuden des Umgangs mit den Künsten erfahren und womöglich in erster Liebe zur Kunst entflammen. Was könnte es Schöneres, das Lebens intensiver Bejaendes geben als solch ein Erlebnis in jungen Jahren.
Profikünstler sind den jungen Menschen dabei Türöffner, Wegbegleiter, Berater, Helfer. Und famoser Nebeneffekt der ganzen Sache ist: Wir, das Publikum, dürfen uns seit einem Vierteljahrhundert an den Ergebnissen erfreuen. In diesem Sinne darf ich „danke” sagen für 25 Jahre Koblenzer Jugendtheater, und „Gutes Gelingen” wünschen für die nächsten Jahre oder Jahrzehnte. – – Merci
Andreas Pecht