Zum angesehenen Staatsorchester des 21. Jahrhunderts

Koblenzer Orchestergeschichte Teil 2: 1973 bis heute

ape. In der vorigen Ausgabe des Magazins "con moto" hatte ich über Marksteine der früheren und frühesten Koblenzer Orchestergeschichte geschrieben – beginnend anno 1654, bis zur Gründung der Rheinischen Philharmonie 1945, endend bei der Umwandlung in ein rheinland-pfälzisches Staatsorchester 1973 (> Teil 1 s. hier) . Seither wurde der Autor mehrfach gebeten, zumal von jüngeren und nicht schon seit Jahrzehnten in Koblenz lebenden Musikfreunden, diese Erzählung doch bis in die Gegenwart fortzusetzen. Dieser Bitte sei hiermit gerne entsprochen.

„Das Land Rheinland-Pfalz übernimmt das Sinfonieorchester des Vereins Rheinische Philharmonie e.V. mit Wirkung zum 1. Juli 1973 (...) Mit der Übernahme des Orchesters in seine Trägerschaft will das Land zu einer Intensivierung des Musiklebens im Lande beitragen.“ So steht es im Paragraph 1.1 des Übernahmevertrags. Das Koblenzer Staatsorchester ist geboren, mit rund 70 Musikern, einem Dirigenten, einem Geschäftsführer und einigen Angestellten, es trägt seither den Namen „Staatsorchester Rheinische Philharmonie“.

Dessen erster musikalischer Leiter wird Wolfgang Balzer. Bereits in der Spielzeit 1972/1973 haben die Musiker den jungen Dirigenten gewählt, der zuvor 1. Kapellmeister der Frankfurter Oper war. Balzer leitet auch das Festkonzert anlässlich der Ernennung zum Staatsorchester am 5. September 1973. Zu Beginn der Spielzeit 1975/1976 wird Pierre Stoll Generalmusikdirektor; er war zuvor 1. Kapellmeister der Straßburger Oper. Ihm folgt 1981/1982 James Lockhart als GMD nach Koblenz. Der hier bald sehr beliebte Schotte mit dem feurigen Naturell war zuvor gefragter Gastdirigent an vielen Häusern und Professor am Royal College in London. Als Lockhart 1991 aufhört, ernennt ihn der damalige Ministerpräsident Rudolf Scharping zum Ehrendirigenten des Orchesters.

Es sind Jahrzehnte voller Schaffensdrang. Für den Südwestfunk spielen die Koblenzer ab Mitte der 1970er-Jahre zahlreiche Aufnahmen ein. Zugleich entstehen in rascher Folge Schallplattenproduktionen. Neben dem opulenten heimischen Pensum als Konzert- und Theaterorchester stehen Tourneen nach Süddeutschland, Frankreich oder in die Schweiz auf dem Programm. Es kommt auch eine Zeit des Abschieds: Erhard May, der umtriebige Vorkämpfer des Orchesters und schließlich dessen Intendant, geht 1984 in Pension. Doch bevor er sein Amt an Veit S. Berger übergibt, verschafft er der Rheinischen noch ein neues, dauerhaftes Zuhause. Denn ein Problem bleibt mit der Verstaatlichung 1973 weiterhin ungelöst: Die Philharmonie hat kein eigenes Domizil. Das Görreshaus, in dem die Musiker in der Nachkriegszeit unter anderem geprobt hatten, war aus baulichen Gründen von der Polizei versiegelt worden. Das kunsthistorisch wertvolle altdeutsch-neugotische Gebäude drohte zu verfallen.

Und das Orchester? Wechselt für jede Probe die Säle. Mit Handkarren transportieren die Orchesterwarte die Instrumente quer durch die Stadt. Zwölf Jahre dauert dieser Zustand an. Jahre, in denen May so manche Mittagspause um das alte Haus herumschleicht und überlegt, wie es wohl zu retten sei. Ein Zustand, der länger nicht akzeptiert werden kann – zumal zeitgleich das Land für die Staatsphilharmonie Ludwigshafen den Neubau eines eigenen Hauses beschlossen hat. „Ich nutzte dann meine politischen Kontakte, insbesondere zum Koblenzer Oberbürgermeister Willi Hörter, sodass das Haus dann doch mit viel Aufwand instand gesetzt und restauriert wurde“, heißt es in Mays Erinnerungen. Das klingt einfacher, als es war. Nach zähem Ringen übereignet die Stadt Koblenz die Liegenschaft kostenlos dem Land – unter der Bedingung, das historische Gebäude zu sanieren, zu restaurieren und für eine Nutzung durch das Orchester herzurichten. Es werden Probezimmer und Büroräume eingebaut. Der Saal wird stilvoll rekonstruiert. Kronleuchter, Holzvertäfelungen und Wandmalereien aus dem 19. Jahrhundert, durch Säulen gegliederte Kopfemporen und eine Seitenloge geben ihm ein ganz eigenes Gepräge. Gebäude und Saal in der Eltzerhofstraße stammen aus dem Jahr 1865 und gehen wie so manches am Rhein-Mosel-Eck auf eine Bürgerinitiative zurück. Das Görreshaus ist eine Gründung des Katholischen Lesevereins Koblenz – und wäre wahrscheinlich nie gebaut worden, hätten sich die Mitglieder zwecks Finanzierung ihres Vereinshauses damals nicht zu einer Spargemeinschaft zusammengetan. Lange Zeit eine gute Adresse für das städtische Geistesleben, schrieb das Görreshaus nach dem Zweiten Weltkrieg auch Landesgeschichte: Von Sommer 1947 bis Mai 1951 war es Sitz des ersten rheinland-pfälzischen Landtages.

Am 16. August 1985 ist es soweit: Zu ihrem 40. Geburtstag zieht die Rheinische mit einem Gala-Konzert und der 2. Sinfonie von Gustav Mahler ins Görreshaus als fester Heimstatt ein. Das Haus hat einen der bemerkenswertesten historischen Säle in Koblenz.  Beim Probesaal allein konnte und sollte es nicht bleiben. Schon 1986 rief der damalige Intendant Richard Stracke – allfällig mit dampfender Pfeife und gesegnetem Humor anzutreffen – eine Kammerkonzert-Reihe im Görreshaus ins Leben. In Lockharts Nachfolge übernimmt 1991 Christian Kluttig die Position des GMD – als Dirigent des Händel-Festspielorchesters in Halle ist er da in Kennerkreisen bereits ein Begriff. Unter seiner Leitung und der Intendanz (1986 – 1997) von Stracke wurden die „Orchesterkonzerte im Görreshaus“ eingeführt. Auch sie existieren bis auf den heutigen Tag, bieten an vier Sonntagnachmittagen pro Saison erlesene bis konzeptionell ungewöhnliche Konzertprogramme mit großem Orchester und namhaften Solisten. Zu den beiden Reihen der Kammermusik- und Orchesterkonzerte gesellt sich ein breites Spektrum von Kinder- und Jugendkonzerten, kommen über die Jahre zahlreiche Sonderprogramme und diverse Gastveranstaltungen hinzu. So hat sich das historische Görreshaus seit dem Einzug des Orchesters 1985 zu einem lebendigen Zentrum klassischer Musik mitten in der Koblenzer Altstadt entwickelt.

Anfang der 1990er schreibt die Rheinische wieder lokale Musikgeschichte: Anlässlich der 2000-Jahr-Feier der Stadt Koblenz 1992 macht Kluttig die Festung Ehrenbreitstein zur Freilicht-Musikbühne. Beethovens „Fidelio“, gespielt in den historischen Gemäuern der preußischen Befestigungsanlage, wird zum sommerlichen Jubiläumsereignis. Gleiches gilt für die Aufführung von Mahlers „Sinfonie der Tausend“ in der Sporthalle Oberwerth, bei der nicht nur die Mitglieder der Rheinischen Philharmonie mitwirken, sondern auch ein Großteil des Orchesters der Bonner Beethovenhalle. Mahlers Sinfonie erreicht 9000 Zuhörer – auch Haupt- und Generalprobe sind öffentlich.

Von nun an zieht es die Rheinische zudem weiter hinaus in die Welt. 1998 wird Shao-Chia Lü als Nachfolger von Christian Kluttig neuer GMD. Der stets zurückhaltende, ernsthaft-freundliche  Taiwanese hatte sich spätestens mit seinem triumphalen Debüt als Konzertdirigent bei den Münchner Philharmonikern einen Namen gemacht. Unter seiner Leitung – und der Intendanz von Rainer Neumann – geht es erstmals nach Asien. Das Orchester unternimmt eine China-Tournee nach Shanghai, Peking, Fuzhou. Und 2002 gastiert mit den Koblenzer Musikern erstmals ein Sinfonieorchester im zentralafrikanischen Ruanda. Die Afrika-Tour anlässlich des 20-jährigen Bestehens der Partnerschaft zwischen Rheinland-Pfalz und Ruanda umfasst sieben Konzerte.

2003 taucht plötzlich ein mit der Verstaatlichung 1973 überwunden geglaubtes Gefühl wieder auf: Sorge um den Fortbestand der Rheinischen Philharmonie als vollwertiges Sinfonieorchester. Denn das Land will sparen, und das Kulturministerium in Mainz plant deshalb eine Orchesterstrukturreform. In Rede steht für die drei landeseigenen Orchester in Ludwigshafen, Mainz und Koblenz eine erhebliche Reduzierung der Musikerstellen sowie ihre kooperative Vernetzung unter einer gemeinsamen Generalintendanz. Weil Musiker und Musikfreunde vor allem in Mainz und Koblenz einen die Spielqualität und Repertoirefähigkeit beträchtlich einschränkenden Aderlass befürchten, kommt es beiderorts zu mannigfachen Protesten.

Die ziehen sich über Monate hin. Dabei wird deutlich, wie stark die Rheinische Philharmonie im öffentlichen Leben der heimischen Region verankert ist: Zahllose Bürger beteiligen sich an  Protestaktionen in Koblenz und Umgebung, gut 60 000 Unterschriften kommen für den Erhalt des Orchesters in seiner gewohnten Stärke zusammen. Der Protest erwirkt einen Kompromiss – Koblenz und das nördliche Rheinland-Pfalz erfreuen sich weiterhin an ihrem vollwertigen, bald auch wieder mit eigener Intendanz ausgestatteten Staatsorchester Rheinische Philharmonie. Als im März 2004 rund 3000 Besucher zum Jubiläumskonzert „350 Jahre Orchester Koblenz“ in die Sporthalle Oberwerth strömen, wirkt der Schulterschluss zwischen Orchester und Öffentlichkeit nach. Der Abend ist nicht nur musikalisch ein denkwürdiges Ereignis. Shao Chia Lü leitet einen Musizierapparat, den man hierorts in solcher Größe noch nie erlebte: das Koblenzer Staatsorchester, die Philharmonie Heidelberg, zehn Chöre, sechs Solisten – insgesamt 600 Mitwirkende sind für Arnold Schönbergs „Gurrelieder“ aufgeboten.

2005 übernimmt Daniel Raiskin von Lü die Stabführung bei der Rheinischen. Rund elf Jahre prägt er Orchester und dessen Programmatik mit beträchtlichem Erfolg – obwohl er und der 2010 als Nachfolger von Neumann ins Intendantenamt berufene Frank Lefers auch manche Widrigkeit zu bestehen haben. Anfangs hat Raiskin es noch mit unangenehmen Wirkungen der Orchesterreform zu tun. Dann trifft ihn, die Rheinische Philharmonie und das Musik-Institut Koblenz das Problem „Generalsanierung der Rhein-Mosel-Halle“ in den beiden Spielzeiten 2010/11 und 2011/12 mit voller Wucht. Wegen der Bauarbeiten müssen die großen Anrechtskonzerte des Musik-Instituts in die Sporthalle Oberwerth ausweichen – die das Dreifache an Publikum fasst und klassikakustisch ein Albtraum ist.

Dank beträchtlichen Technikaufwands, reduzierter Anzahl von Konzerten, die aber mit Solisten von Weltrang wie Julian Rachlin, Mischa Maisky oder Eva Kupiec besetzt sind, sowie zahlreichen Unterstützern und des spielfreudigen Engagements der Rheinischen Philharmonie unter Raiskin kann die „Notsaison“ 2010/11 doch mit Bravour und viel öffentlichem Zuspruch über die Bühne gebracht werden. Dann die Hiobsbotschaft: Die Bauarbeiten an der Rhein-Mosel-Halle werden auch die gesamte Spielzeit 2011/12 andauern. Traurige Folge: Erstmals muss in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein Jahrgang Anrechtskonzerte vollständig ausfallen. Es ist eine schwierige Zeit, die vor und hinter den Kulissen durchaus nicht spannungsfrei verläuft, aber schließlich doch glücklich überwunden wird.

2014 übernimmt Günter Müller-Rogalla das Intendantenamt bei der Rheinischen Philharmonie – und sieht sich unerwartet sogleich mit dem Umstand konfrontiert, dass Raiskin sein Engagement in Koblenz beenden will und also ein neuer Chefdirigent zu suchen ist. Der Übergang zu Garry Walker verläuft nicht ganz reibungslos, denn für die Spielzeit 2016/17 ist der alte Orchesterleiter schon weg, der neue aber noch nicht verfügbar. Müller-Rogalla muss die Saison im Alleingang managen, Orchester und Publikum erleben ein Jahr mit von Konzert zu Konzert wechselnden Dirigenten. Und siehe: Alle Beteiligten sprechen im Nachhinein zwar von einem anstrengenden, jedoch auch spannenden, lehrreichen, inspirierenden Jahr. Es erweist sich, dass Raiskin ein sehr stabiles und flexibles Orchester hinterlassen hat, das auch unter gänzlich verschiedenen Stabführungen auf hohem Niveau musiziert. An dieses Niveau kann Garry Walker bei seinem Dienstantritt als neuer Chefdirigent im Herbst 2017 anknüpfen – und es mit eigener Handschrift weiterentwickeln. Die musikalischen Ergebnisse dieser Arbeit haben bis dato schon viel Freude gemacht. Alles Weitere ist nun zu erlebende Gegenwart.

Andreas Pecht

> Hier geht es zu dem im Herbst 2019 erschienenen ersten Teil dieses Beitrags - Über Marksteine der Koblenzer Orchestergeschichte von 1654 bis 1973

 

Archiv-chronologisch: