Sartres Existenzialismus prallt aufs Heute

"Geschlossene Gesellschaft" am Schauspiel Frankfurt / Kritik

Frankfurt. ape. Wie macht man aus einer der räumlich größten Bühnen Deutschlands den Ort für ein intimes Kammerspiel, das vier Personen in ein enges Zimmer sperrt? Bühnenbildner Volker Hintermeier benutzt sie einfach nicht. Stattdessen baut er vor die Bühne des Schauspiels Frankfurt eine eigene, wesentlich kleinere Bühne. Dort spielt Johanna Wehners Inszienierung von Jean-Paul Sartres Stück „Geschlossene Gesellschaft“ aus dem Jahr 1944 – in einem Kanal stufig sich nach hinten bis auf Gesichtshöhe verjüngenden Rahmen aus Balken und Weißneonleuchten. So wirken die Personen größer und zusammengerückt, die menschlichen Klüfte zwischen ihnen umso krasser.

„Ich, ich, ich, ich“ beginnt Patrycia Ziolkowska als lesbisch-burschikose Ines erst stotternd, nachher in hämmerndem Staccato viele ihrer Sätze, die sie kaum je zu Ende bringt. Ich, ich, ich, ich signalisiert ebenso Anna Kubin in sich steigernder Hysterie als mit rosa Rüschenkleid und Federkopfschmuck herausgeputzte schöne Estelle im Püppchen-Habitus und mit dem steten Verlangen nach einem Spiegel. Auch sie bringt kaum einen vollständigen Satz zuwege, verliert selbst Gedanken- und Sprachfluss oder wird von den anderen unterbrochen; etwa von Matthias Redlhammer in der Rolle des verstörten Garcin allweil mit dem Stöhner „diese scheckliche Hitze hier“, unter der nur er, er, er, er zu leiden scheint.

Vierter im Bunde ist eine Figur, die bei Sartre „der Kellner“ heißt und die zu dem Haus gehört, in dem sich dieses Zimmer befindet. Die in wunderbar lakonischer Sparsamkeit aufspielende Heidi Ecks gibt mit keckernden Lachkommentaren und vagen Gesten den Kellner, der über alles Bescheid weiß, worüber die drei Besucher mutmaßen: Sie sind tot, in der Hölle gelandet, absichtsvoll oder zufällig zu eben dieser Gruppe vereint. Und nun warten sie auf irgendetwas, irgendjemanden – rotieren dabei ähnlich wie Estragon und Wladimir in Becketts „Warten auf Godot“ auf ewig um ein Zentrum aus Nichts, fürchten indes die baldige Ankunft eines Folterers.

Doch der kommt nie. Muss gar nicht kommen, um Ines, Estelle und Garcin die Existenz teuflisch zu vergällen. „Die Hölle, das sind die anderen“: Dieser fast sprichwörtlich gewordene Satz stammt aus „Geschlossene Gesellschaft“ und wird von Sartre mit diesem Stück als Verdrängungsmechanismus entlarvt. Denn die Hölle, das macht Frankfurt einmal mehr deutlich, die bereiten wir uns selbst. Es ist die schier wahnwitzige Ich-Bezogenheit, mit der sich das Trio ein tröstendes Miteinander im für alle Zeit hermetisch geschlossenen Dasein verbaut.

„Das Eis ist gebrochen“ lügen sich die einander Fremden mehrfach vor, nach Phasen zerstückelter, sinnentleerter, füreinander interesseloser Konversation. Tragische Lebensvorgeschichten aus Verstellung, Verstrickung, Betrug, Unglück, selbst Mord tauchen nur sehr zögerlich und nur in Bruchstücken auf: Wahrheiten, die eigentlich keiner preisgeben will. Überhaupt ist Stückelung ein Kennzeichen des 100-minütigen Spiels. Denn Johanna Wehner hat ziemlich brachial in den Sartre‘schen Text eingegriffen, hat Passagen, Sätze, Wörter quasi zerhackt.
 

Das Ganze ist allerdings so klug gearbeitet, wird reihum bis in kleinste Gesten so signifkant gespielt, dass der inhaltliche Sinn erschließbar bleibt oder sich dem Zuseher als interessante Fragestellung andient. Obendrein verdichtet sich derart der sprachliche Verlauf zu einem faszinierend rhythmischen Konstrukt – das den Protagonisten immer wieder Halt und die Möglichkeit zum Miteinander bietet, von ihnen indes ebenso oft in selbstbezogener Ignoranz und aus Sucht nach Aufrechterhaltung unwahrer Selbstbilder vertan wird. Dies sind dann die Momente, wo Sartres Existenzialismus des mittleren 20. Jahrhunderts und Wesensmerkmale der Gegenwart im frühen 21. mit erhellender Wucht aufeinanderprallen. Ergebnis des Mitdenkens: So viel armselig verlogener Schein wie heute war womöglich noch nie. 

Andreas Pecht

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