Die Kunst des Erwin Wortelkamp

Schule des Sehens und Aufforderung zur Widerständigkeit

Vortrag auf der Festung Ehrenbreitstein am 3. Februar 2019 im Rahmen der Finissage zur Ausstellung „Erwin Wortelkamp. Wehrhaft oder was gilt es zu verteidigen“. (Unkorrigiertes Redemanuskript)

Meine Damen und Herrn, liebe Kunstfreunde,

natürlich könnte ich jetzt 15 Minütchen eine nette, liebe, brave Verabschiedungs-Rede auf die Wortelkamp-Ausstellung halten. Aber das läge mir nicht und würden Sie von mir wohl auch nicht erwarten. Vor allem aber wäre ein solch wohliges Harmoniebad weder dem Charakter des Künstlers, noch dem Wesen seiner Werke angemessen.

Also: Es hat soeben der schaffende Künstler gesprochen, jetzt spricht der interessierte Betrachter seiner Kunst. Das sind zwei durchaus verschiedene Blickwinkel, die zu sehr unterschiedlichen Anschauungen führen (KÖNNEN).

Das Verlangen nach Freiheit der Kunst umfasst stets zwei Freiheiten. Auf der einen Seite ist das die Freiheit des Künstlers, zu schaffen und öffentlich zu präsentieren, was immer er mag und selbst für richtig hält. Auf der anderen Seite kann, darf und soll der Betrachter, der Rezipient, das Publikum für sich die Freiheit in Anspruch nehmen, den Werken der Kunst nahezutreten mit je eigenem Blick, eigenem Begreifen, eigenem Interpretieren.

Seit gut drei Jahrzehnten predige ich: Wer bei der Erstbegegnung mit einem Kunstwerk sofort und vorneweg die Frage aufwirft „Was will der Künstler uns sagen?“, der stellt einfach die FALSCHE Frage zum falschen Zeitpunkt. Denn just diese Frage beraubt einen augenblicklich der eigenen Freiheit als Betrachter.

Sie verbaut das Wunderbare der Erstbegegnung des Rezipienten mit dem Werk. Und was ist dieses Wunderbare? Es ist die individuell-intime Beziehung, die zwischen beiden entstehen kann, wenn der Betrachter das Werk erstmal nur unvoreingenommen auf sich wirken lässt. Wenn er sich dann bewusst zu machen versucht, was er, der Hinschauer SELBST im Werk sieht oder sehen will. Wenn er zu begreifen bemüht ist, was das WERK ihm sagt oder sagen kann, was es mit ihm macht oder machen könnte.

Ich weiß nicht, wie sich das bei Erwin Wortelkamp verhält. Aber ich weiß von manchem Künstler, für den das ein ausgesprochen schwieriger Moment ist: Diese Spanne, während der das Ergebnis seines Schaffens IN DER BEGEGNUNG MIT DEM PUBLIKUM sich vom Einfluss seines Schöpfers löst. Denn selbstredend ist es nie garantiert, dass die Betrachter just dasselbe im Kunstwerk sehen, was der Künstler hat ausdrücken wollen.

Nehmen wir als Beispiel jene raue, graue Holzstrebe, die Wortelkamp draußen hoch über dem Hauptweg der Festung zwischen zwei noch höhere Festungsmauern gekeilt hat. Als ich diesen „Querbalken“ entdeckte, schoss mir unwillkürlich – und in völliger Unkenntnis dessen, was der Künstler vielleicht damit sagen will – folgender Eindruck durch den Kopf: Dieses Holz stützt die Mauern nicht, es wehrt sich gegen sie.

Anno 1970 hat Wortelkamp schonmal etwas ähnliches gemacht. Im Örtchen Monschau quetschte sich bei einer Straßenaktion in einer schmalen Gasse ein riesiger transparenter Luftballon zwischen zwei alte Fachwerkhäuser, die sich über Jahrhunderte in leichter Schieflage einander zuneigt hatten. Schon das alte Schwarz-weiß-Foto, das es davon gibt, erzeugt eine ganz andere Wirkung als die Querbalkenkonstruktion draußen auf dem Festungsweg: Der Ballon wirkt wie ein freundlicher Helfer, der die alten Gemäuer stützt und vor dem Umfallen bewahrt.

Hier hingegen auf der Festung, entsteht bei besagtem Querbalken ein ganz anderer Eindruck: Festungsarchitektonisch ist die besagte Engstelle des Hauptweges gedacht als Mausefalle für den Feind. Dicht zusammengedrängt sollten Angreifer sich dort kaum bewegen können, sollten sich klein, ungeschützt, bedroht fühlen – und dann tatsächlich von obenherab beidseitig bombardiert werden.

Indem das Kunstwerk nun ANDRÜCKT gegen die Enge, andrückt gegen das Bestreben der gewaltigen Festungsmauern, für die Menschen unten den Himmel zu verdüstern, gewinnt dieses Werk an diesem Ort FÜR MICH eine um Menschlichkeit kämpfende, wehrhafte Bedeutung.

Das ist meine Interpretation dieser Arbeit Wortelkamps an dieser Stelle da draußen. Und um ehrlich zu sein: Es interessiert mich in solchen Augenblicken des Entdeckens und ersten Schauens auch nicht, was der Künstler mir vielleicht sagen will. Dieser Moment gehört ganz allein der intimen Begegnung zwischen dem Werk und mir, dem Betrachter. Später freilich kann es umso interessanter werden, zu hören, welche Bedeutung der Künstler dem Werk zugedacht hatte und was die Kunsthistoriker dazu meinen. Aber das ist dann erst der zweite oder dritte Schritt der Rezeption.

Jeder von Ihnen hier im Saal mag dem besagten Querholz eine andere Bedeutung zugesprochen haben – so ihnen das Werk überhaupt ins Auge gefallen ist. An einem anderen Ort anders eingesetzt, würde dasselbe Holzstück eine völlig andere Bedeutung bekommen. Will sagen: Wortelkamps Werke, jedenfalls die meisten, verändern ihre Bedeutung je nach Umgebung, in der sie präsentiert werden. Was von ihrem Erschaffer gewollt ist!

Wo Erwin Wortelkamp zu Gange ist, muss man folglich stets auch die Umgebung, in der seine Werke ausgestellt sind oder eingesetzt werden, genau im Auge behalten.

Ich bin hier oben auf der Festung draußen und drinnen einigen seiner Arbeiten wiederbegegnet, die ich teils in vorherigen Jahren bei einer Gruppenausstellung im Arp-Museum sah oder die im Landesmuseum Mainz 2016 – oder war‘s 2017? – in die dortige Dauerausstellung eingefügt waren.

Jedesmal wirkten sie anders und hatten eine völlig andere Bedeutung. So traf man beispielsweise im Mainzer Museumsaufzug auf eine kleineren Vertreter aus Wortelkamps Köpfe-Reihe. Verschreckt, verloren oder sich versteckend stand jene schrundige, verwundete, malträtierte vage Kopfform aus Holz, Erden und hineingetriebenen Eisenstücken in der glitzernden Kabine. Ein leidendes Häufchen Elend, quasi leise weinend auf die zivilisatorische Kehrseite des Glitzerns weisend.

Einen solchen Kopf haben wir auch hier oben. Da draußen steht er. Aber hier versteckt er sich nicht, sondern steht zentral vor allen Augen. Er ist um vieles größer als sein Geschwisterchen damals im Mainzer Museumsaufzug – aber er ist nicht weniger verwundet. So wird dieser Kopf dort draußen in der FESTUNGS-Umgebung von mir verstanden als anklagendes Mahnmal, das in lauter, auch wütender Nachdrücklichkeit ruft: Oh Mensch, sieh und bedenke, was du dir antust!

Da die Umgebung hier oben eine sehr besondere ist, nimmt so manche Wortelkamp-Arbeit hier eben auch einen besonderen Charakter an. Ich bin mir relativ sicher, dass Wortelkamp wahrscheinlich in viel stärkerem Maße, als die meisten von uns anderen das mittlerweile tun, die Festung Ehrenreitstein als Festung wahrgenommen hat: Nach ihrer Architektur als einstige Kriegsmaschine.

Und so nehmen seine hier ausgestellten Arbeiten, vor allem die im Außenbereich, immer wieder Bezug auf das in Architektur gegossene militärische Wesen ihrer diesmaligen Umgebung.

Zuerst sind sie vor allem Stör- oder Stolpermomente im gewohnten Umgebungsbild. Sie irritieren den Hinseher, stellen in Frage, was ihm seit langem und bis eben noch als selbstverständlich galt. Zugleich öffnen sie oft den Weg zu neuen Blickhorizonten und damit auch neuen Denkarten. Ich empfinde es als grundlegenden Wesenszug von Wortelkamps Kunst, dass sie das Gewohnte, das Dominante, den Mainstream ästhetisch wie inhaltlich stört, an ihm rüttelt, ihn unterminiert. Kurzum: Diese Kunst wollte immer und will noch immer die kritische Befragung der Welt provozieren. Insofern ist sie wehrhaft – wehrt sich in der Festungsumgebung gegen die kriegerische Wehrhaftigkeit einer Architektur, die ursprünglich auch feudalen Herrschaftsanspruch untermauerte.

„Schau her, so könnte es auch sein“ singt ein zart und schön geschwungenes Grauholz in befriedender Utopie-Ästhetik, das dort an einer düsteren Wehrmauer hängt. „Hier stehe ich, und trotze unbewaffnet euren Kanonen“ signalisiert die Zweibeinige Schwarzholzskulptur vor den Schießscharten einer Festungsbatterie (siehe Foto auf ihrer Einladung). Derart könnten wir alle Außenkunstwerke der Reihe nach abschreiten und noch einmal schauen, in welch spannender Beziehung sie zum steinernen Preußen-Bollwerk stehen.

Meine Damen und Herrn,

ich kann mir sehr gut vorstellen, wie schwierig es für Erwin Wortelkamp war, die Innenpräsentation in der hiesigen Räumlichkeit aufzubauen. Denn die beiden Flure mit den immergleichen Kasemattenalkoven schränken die Möglichkeiten eines beziehungsreichen Kommunikationsverhältnisses zwischen Werken und Umgebung doch beträchtlich ein.

Und ich kann mir deshalb auch gut vorstellen, wie schwierig es für die anderen Beteiligten bisweilen war, mit Erwin Wortelkamp diesen Weg zu gehen. Denn dieser Mann ist genau wie viele seinerWerke: Querköpfig, manchmal sperrig, irritierend, verstörend, kantig, resolut, provokant – also widerständig und wehrhaft eben.

Seine Kunstwerke müssen hier im Innenraum etwas machen, was sie nicht wirklich gewohnt sind: Sie müssen miteinander kommunizieren, sich aufeinander beziehen, sich aneinander reiben. Sie müssen auch nach Art einer musealen Lebenswerkausstellung die Entwicklung ihrer selbst von den 1960/70ern bis heute darstellen.

„Na und“, könnten SIE einwenden. „So ist das nunmal bei Werkausstellungen im Museum.“ Stimmt, und es ist ja auch die Innenausstellung sehr schön geworden. Zugleich aber ist sie an nicht wenigen Stellen quasi eine kunsthistorische Abstraktion. Eine Abstraktion, die so manches Exponat – klar, das geht nicht anders – losgelöst von seinem ursprünglichen Element zeigt.

Nehmen wir als Beispiel die Meditationskabine oben. Jenen nach allen Seiten offenen Kasten aus einem Metallgestänge. Etliche solcher Kästen hatte Wortelkamp während der 1970er in verschiedenen Größen und Formaten gebaut. Dann stellte er sie in den öffentlichen Raum, in Frankenthal beispielsweise mitten in ein Kaufhaus – auf dass Passanten sich hineinstellen, um mit sich und mit der jeweiligen Umgebung etwas Beruhigendes oder Aufregendes anzufangen.

Die Kastenrahmen waren damals Teil öffentlicher Aktionskunst, die selbst vor dem Wormers Luther-Denkmal nicht halt machte: Auch dem steirnernen Reformator wurde im Frühjahr 1971 eine Meditationskabine verpasst. Was – sie können es sich vorstellen – in Worms, sagen wir mal: auf ein durchaus geteiltes Echo stieß. Nun steht so eine Kabine hier im Museum, und man weiß nicht recht: Ist das Kunst, oder haben die Handwerker den Rest einer Verpackungskiste stehen lassen?

Dem Werk fehlt sein ureigentliches Lebensumfeld. Und so geht es anderen Werken ebenfalls. Einige gewinnen in der spezifischen musealen Präsentationsform der Festungsgewölbe ganz neue, teils sehr ansprechende Wirkungen. Etwa die zu Gruppen gestellten Hände oder die Holzarbeit „Liegende“ und der aus ihr herausgesägte Kopf. Andere Exponate bleiben primär kunsthistorische Dokumente. Das gilt nicht zuletzt für die überwiegend metallenen Arbeiten aus der Frühphase sowie die Zeugnisse von Wortelkamps damaliger kritischer Performance-Auseinandersetzung mit den Wohnbatterien der frühen Republikzeit.

Meine Damen und Herrn, von mir altem Gesellschaftskritiker und Grantler wird der Herr Wortelkamp als quasi Verwandter im Geiste hoch geschätzt. Gleichwohl könnte es sein , dass er mit meinen hier vorgetragenen Interpretationen und Deutungen seiner Arbeit teilweise oder völlig überkreuz liegt. Das kann passieren, wenn die Freiheit des Künstlers und die Freiheit des Betrachers aufeinander stoßen.

In diesem Falle sei allerdings angemerkt: Einen nicht unerheblichen Anschub dafür, Wortelkamps Kunst in ihrer Beziehung zu der sie jeweils umgebenden Welt zu betrachten, erhielt ich von Wortelkamp selbst. Wie das zuging, sei zum Abschluss meiner kleinen Ansprache kurz erzählt:

Es mag drei oder vier Jahre her sein. Da führte mich Erwin Wortelkamp an einem eisig kalten Wintertag hoch droben im Westerwald durch seine „Im Tal“ genannte Landschaft mit Kunst. Gut drei Stunden waren wir unterwegs – auf den Spuren der Wechselwirkungen zwischen Arbeiten von 50 namhaften Künstlern mit der umgebenden Natur. Dieses „Im Tal“ ist ein öffentlich zugängliches Gesamtkunstwerk aus vielen künstlerischen wie landschaftlichen Teilen über mehrere Quadratkilometern – gewachsen über drei Jahrzehnte unter der Ägide Wortelkamps gleich hinter seinem Westerwälder Wohn- und Arbeitshaus.

Und dort lehrte der Künstler mich, den erbärmlich frierenden Kulturjournalisten, genauer zu schauen: auf Blicklinien zu achten, auf kleine Schneisen im Wald oder auf Parallelen zwischen einem Kunstwerk, der nächsten Straße und der Horizontlinie. Er wies mich auf nonverbale Kommentare manchen Werkes zur Umgebung oder auch zum nächsten und übernächsten Werk hin. Er stieß mich buchstäblich mit der Nase auf Verflechtungen aus Kunst mit benachbarter Landwirtschaft. Und vieles mehr.

Genauer schauen und widerständiger denken: Das ist es nach meinem Dafürhalten vor allem, was Betrachter von der Wortelkamp‘schen Kunst lernen können. Und das ist nicht wenig gerade in heutiger Zeit.

Danke für ihre Aufmerksamkeit.

Archiv-chronologisch: