Ein Mittelrheiner in Berlin

Quergedanken Nr. 150

ape. „Na, wie war's?”, fragt Freund Walter. Antwort: „Ein Betrieb wie am Koblenzer Hauptbahnhof zur Rush Hour.” Was natürlich maßlos untertrieben ist, da die Frage einem Kurzbesuch in Berlin gilt. Schließlich ist das eine echte Großstadt, mit 3,5 Millionen Einwohnern die größte der vier deutschen Millionenstädte. Weil Walter zu jenen 54 % Deutschen gehört, die noch nie in der  Hauptstadt waren, ein Zahlenspiel: Köln, Frankfurt, Bonn, Wiesbaden, Mainz und Koblenz haben in summa nur 2,7 Millionen Einwohner; die Einwohnerzahl von Berlin ist 31 mal so groß wie die von Koblenz. Und würde man Berlin an den Mittelrhein versetzen, erstreckte sich das Stadtgebiet ungefähr von Neuwied bis Boppard und von Münstermaifeld bis Höhr-Grenzhausen.

Um's gleich zu sagen: Berlin hat viele nette Ecken, sogar ein paar hübsche. Die allerdings findet kaum, wer an Besucher-Latsch-Highways klebt von Reichstag/Brandenburger Tor über Alex, Museumsinsel, Unter den Linden bis zum hässlichsten Prachtboulevard Westeuropas, dem Kurfürstendamm. Zudem gilt fast überall das Prinzip „BER” = nie fertig werdende Baustelle. An der neuen U-Bahn Nr. 5 wird an gleicher Stelle noch immer gebaut wie vor acht Jahren schon. Der neue Baukern des Stadtschlosses ist längst fertig, doch die potemkinsche Nostalgiehülle braucht Zeit. Um die Mercedes-Arena streben Glas- und Betonpaläste im Dutzend 'gen Himmel, fast jeder so abstoßend nach Geld und Möchtegernarchitektur stinkend wie das mittlerweile schon wieder ergrauende kalte Rund des Potsdamer Platzes.

Die Zubringer werden gerade 8- bis 10-spurig ausgebaut, auf dass die inneren Ringe und Verkehrsadern noch geschwinder verstopft werden. Berlin erstickt in Blech, obwohl dort prozentual deutlich weniger Bewohner ein Auto besitzen als in Mainz oder Koblenz, und noch weniger das ihre täglich benutzen. Warum auch?! Denn die Hauptstadt hat etwas, um das ich sie seit meinem ersten Besuch vor Jahren beneide: ein öffentliches Personennahverkehrssystem, das diese Bezeichnung auch verdient. Stell dir vor, du könntest rund um die Uhr im 3- bis 10-Minutentakt zügig von Münstermaifeld nach Höhr-Grenzhausen oder von dort nach Koblenz, Neuwied, Boppard, Bad Ems fahren und umgekehrt. Du könntest wählen und hüpfen zwischen U-Bahnen, S-Bahnen, Bussen, Straßenbahnen. Kurzum: Du kämst stets in kürzester Zeit überall hin. Das ist ÖPNV in Berlin. Ein Traum.

Weshalb dennoch so viele Leute sich mit dem Auto durch die Stadt quälen, bleibt mir ein Rätsel. Ich bin mit einem Tagesticket für 7 Euro kreuz und quer durch Großberlin gesurft. Habe an einem Tag eine Streckenfülle zurückgelegt, für die man via ÖPNV am Mittelrhein zwei Wochen bräuchte. Bin mal hier, mal da ausgestiegen und herumspaziert; habe mir Küchendüfte aus aller Welt um die Nase wehen lassen; habe gestaunt über die unendliche Vielfalt des Kulturangebots. Selbst in tiefster Nachtstunde habe ich mich in U-Bahnen und an deren Stationen zwischen Berlinern aus aller Herren Länder und Milieus nicht unsicherer gefühlt als beim abendlichen Gang von der Koblenzer Altstadt zum Schlossparkhaus oder vom Mainzer Staatstheater zum dortigen Hauptbahnhof.

„Würdest du also in Berlin leben wollen?”, fragt Walter. Antwort: Nö – zu viel Mensch auf einem Haufen, zu viel Geschäftigkeit, zu viele nur noch in Smartphones stierende Leute, nirgends ein Berg und keine U- oder S-Bahn zur nächsten echten Landeinsamkeit janz weit draußen.

Erstabdruck/-veröffentlichung außerhalb dieser website 30. Woche im Juli 2017

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