Die Neuvermessung des Menschlichen

Neujahrsessay 2014: Moderner Homo sapiens zwischen Selbstoptimierung und Entschleunigung

ape. 2010 schwappte aus den USA eine neue Lifestyle-Bewegung nach Europa: „Quantified Self“. Ihre  Anhänger streben nach Selbstkontrolle mittels genauer Erfassung eigener Vitalfunktionen und tagtäglichen Tuns. Dafür nutzen sie jede Menge vernetzte Digitaltechnik: Waagen, Schrittzähler, Pulsmesser, Schlafsensoren und mehr. Dazu kommen Apps für Smartphone und Laptop zum akribischen Organisieren, Protokollieren, Analysieren von Arbeit und Freizeit. Diese „Selbstvermessung“ dient nur einem Ziel: Selbstoptimierung – individuelle Perfektionierung für die Herausforderungen der Gegenwart. Gilt der Bewegung totale Selbstkontrolle als idealer Weg zu gutem Leben, so sprechen Kritiker von  freiwilliger Totalunterwerfung unter die marktorientierte Leistungsideologie.

Ganz neu ist das Prinzip der Selbstvermessung nicht. Ob Goethe, Thomas Jefferson oder Thomas Mann: Penible Tagebuchprotokoller schlugen sich zu allen Zeiten mit der menschlichen Neigung zu Unordnung und Bequemlichkeit herum. Neu ist, dass gegen die eigene vermeintliche Unzulänglichkeit mit Methoden des industriellen Produktionsmanagments zu Felde gezogen wird. Damit steigt der Glaube an digitale Technologie und ihre Effizienzprinzipien zur Richtschnur auch für vordem urmenschliche Lebenssphären auf.

„Quantified Self“ ist vorläufiger Höhepunkt einer Entwicklung, die in den 90ern das „persönliche Ziel- und Zeitmanagement“ als erlernbare laufend verbesserbare Fertigkeit erst in die Arbeitswelt einführte, seither zusehends vergesellschaftet. Auch Schulkinder, Studierende, Eltern, ja selbst Urlauber, Pensionäre und Liebende befleißigen sich inzwischen des Zeitmanagements, also der durchgeplanten, streng getakteten Organisation des Lebens.

Benjamin Franklin gab 1748 jungen Kaufleuten den zum geflügelten Wort gewordenen Rat: „Denkt daran, Zeit ist Geld“. Karl Marx sprach 100 Jahre später davon, dass im Kapitalismus alle Ökonomie  Zeitökonomie werde. Die Güterproduktion wuchs ins Unermessliche, Zeit aber wurde ein rares Gut. So rar, dass für wenige Minuten oder Sekunden Zeitgewinn auf Schiene, Straße, in der Luft oder in den Info- und Kommunikationsnetzen Abermilliarden Euro investiert, Städte und Landschaften umgemodelt werden; dass eben erst eingeführte neue Techniken in kürzester Spanne durch noch flottere ersetzt werden.

Schnellere Technik, weniger Zeit

Damit einher geht eines der seltsamsten Phänomen der Neuzeit: Bei jeder technischen Neuerung stellt der Nutzer bald fest, dass die ihm zur Verfügung stehende Zeit dadurch weniger wird. Wie kann das sein? Neue Techniken ermöglichen zwar eine beschleunigte Abwicklung bisheriger Tätigkeiten, sie bringen aber stets zusätzliche Funktionen mit sich. Funktionen, die wieder neue Normen setzen, deren Nutzung wieder mehr Zeit erfordert. War das Handy anfangs nur mobiles Telefon, so ist seine Fortentwicklung als Smartphone Kommunikationszentrale, Minibüro, Internetverbindung, Fernseher, Walkman, Personaltrainer, Wegweiser etc. – am Körper mitgeführt als zivilisatorischer Standard wie Unterwäsche und Schuhe.

Alles geht nun schneller. Alles geht nun rund um die Uhr. Alles wird nun stetig mehr. Ob auf Arbeit oder privat: Weil jeder Angst hat, etwas zu verpassen, machen alle immer mehr Dinge (mit), die sie zuvor nie gebraucht hatten. Der Soziologe Hartmut Rosa spricht vom „schrankenlosen Steigerungsspiel“, bei dem sich jeder Schnelligkeitsvorteil gegen diejenigen wendet, denen er nützen soll. Aber ist die Zivilisationsgeschichte nicht per se eine Geschichte fortwährender Beschleunigung? Von der Erfindung des Rades und der Domestizierung des Pferdes, über Telegraph, Dampfmaschine und Glühbirne, bis zu Fließbandproduktion und schließlich Digitaltechnik: „mehr in kürzerer Zeit“ wohin das Auge blickt.

Menschliche Kapazitätsgrenze ist erreicht

Der Fortschritt hat stets auch Kehrseiten. Dass Nachtarbeit ungesund ist, weil sie gegen die biologische Uhr des Menschen wirkt, lässt sich ernsthaft nicht bestreiten. Ebenso unstrittig ist, dass stupide Fließbandarbeit körperlich und geistig zermürbt oder dass Mangel an Frei-/Ruhezeit die Gesundheit ähnlich zerrüttet wie Mangelernährung. Das jüngste gewaltige Problemfeld erwächst aus der digitalen Revolution. Dauerüberforderung durch Multitasking, permanente Erreichbarkeit, stete Beschleunigung sämtlicher Arbeitsprozesse, Durchwucherung der Freizeit mit Job-Angelegenheiten hat zu einer explosionsartigen Zunahme von psychischen Störungen geführt. Es ist offenkundig, dass viele Menschen das heutige Temponiveau und die Dichte multipler Anforderungen nicht mehr verkraften.

Stressbedingte Beschwerden bis zu Zusammenbrüchen sind Volkskrankheiten von enormer Schadensrelevanz für Wirtschaft und Gesellschaft geworden. Wer nie selbst ein Burn-out erlebt oder als Angehöriger miterlebt hat, sollte sich abfällige Bemerkungen von wegen „Modekrankheit“ oder "Weicheierei" tunlichst verkneifen. Denn der unwillentliche Absturz in Kraft- und Hoffnungslosigkeit kann heute fast jeden, auch den scheinbar Robustesten, urplötzlich erwischen. Es häufen sich die Anzeichen, dass mit dem digitalen Hamsterrad des Immer-schneller und Immer-mehr die Kapazitätsgrenze der menschlichen Natur erreicht ist.

Unseliger Kreuzzug gegen "Langeweile"

Zwar könnte unser Gehirn wahrscheinlich noch mehr leisten. Das aber nur, wenn man ihm Zeit und Ruhe zur Verarbeitung des Inputs lässt. Dazu braucht jeder Mensch Phasen, in denen er Herr über seine Zeit und sein Tun ist. Mehr noch: Jeder braucht regelmäßig lange Weilen der Ruhe und Entspannung, der Muße,  des Nichtstuns und Beisichseins. "Selig sind die Stunden der Langeweile, denn in diesen Stunden arbeitet unsere Seele", bemerkte der Kulturphilosoph Egon Friedell schon Anfang des vergangenen Jahrhunderts. Er nahm damit die Erkenntnis jüngerer  neurologischer Forschung vorweg, dass Langeweile oder ziellose Muße der beste Nährboden für das Gehirn ist, seine kreativen Potenziale zu entfalten. Doch was machen wir Digitalmenschen stattdessen, sogar in den Resten des ganz privaten Lebens? Der Psychologe Stephan Grünewald drückt es in seinem Buch „Die erschöpfte Gesellschaft“ so aus: „Wir führen einen Kreuzzug gegen die Langeweile.“

Tippen, mailen, schauen, hören, sprechen, wischen, chatten, bloggen, daten, surfen, shoppen; das möglichst gleichzeitig, im Job, nach Feierabend, selbst am Wochenende und im Urlaub immer weiter. Wer nicht permanent im Info- und Kommunikationsstrom mitschwimmt, fürchtet, aus der Welt zu fallen. Muße und Müßiggang sind perdu, Privatsphäre ebenfalls. Die alten Anstandsregeln, wonach man dem Gesprächspartner ungeteilte Aufmerksamkeit widmet, oder am Abend und am Sonntag niemanden daheim stört, erscheinen wie absurde Vorzeitgebräuche.

Neue Technologien, die Segen sein könnten, werden Fluch, so sie die Herrschaft über Zeit und Lebensart des Individuums wie der Allgemeinheit gewinnen. Dann tritt ein, was Hartmut Rosa „organisatorisches Kammerflimmern“ und Paul Virilio „rasenden Stillstand“ nennen: die allfällige Hatz nach mehr und schneller stolpert über sich selbst. Büroarbeit ersäuft in Mailströmen, atemlose Informationsflut erschlägt informierte Nachdenklichkeit, Netzleben (z)ersetzt echtes Leben.

"Multitasking vermanscht das Gehirn"

„Ist ungeteilte Aufmerksamkeit ein gefährdetes Gut?“, sorgt sich der Philosoph Christoph Türcke. Und Neurologe Manfred Spitzer erklärt: „Menschen, die häufig mehrere Medien gleichzeitig benutzen, haben Probleme mit der Kontrolle ihres Denkens.“ Frank Schirrmacher formuliert diese Erkenntnis der Hirnforschung drastischer: „Multitasking vermanscht das Gehirn. Der Mensch ist dafür nicht gebaut.“  Zuviel ist einfach zu viel – für die Angehörigen einer Spezies, deren Biologie noch immer vom Rhythmus der Jahreszeiten wie vom Tag-und-Nacht-Wechsel getaktet ist. Einer Spezies, deren Natur gelegentliche Hochleistungsspitzen - ursprünglich für Jagd und Flucht - ermöglicht, diesen Alarmmodus aber nicht als Dauerzustand vorsieht.

Zwischen der natürlichen Evolutionsstufe des Homo sapiens und seiner Beschleunigungszivilisation tut sich eine immer schneller wachsende Kluft auf. Viele Negativwirkungen konnten in den letzten 300 Jahren durch Fortschritte bei Nahrung, Wohnung, Hygiene, Medizin  kompensiert werden. Womit jedoch soll die maßlose Ausweitung multipler Hochgeschwindigkeitsanforderungen im Digitalzeitalter ausgeglichen werden? Auf diese epochale Frage gibt es derzeit zwei Antwortlinien. Die eine setzt – siehe „Quantified Self“ – auf Selbstoptimierung, glaubt also, dass Anpassung an die steigenden Anforderungen durch Steigerung des individuellen Leistungsvermögens möglich sei. Die andere strebt nach Entschleunigung, verlangt also Anpassung der Anforderungen an die Natur des Menschen.

(Alb)Traum vom Cyborg wird Wirklichkeit

Auf Selbstoptimierung haben sich ganze Industrien eingerichtet, die uns mit Apparaten und Trainingsgeräten, mit Lern-, Verhaltens-, Fitnessprogrammen, mit Nahrungsergänzungsmitteln, Hallo-Wach- und Psychopillen überschütten. Doch dabei bleibt es nicht. Das Ideal bisheriger Humanwissenschaft war Erhalt und Wiederherstellung der Gesundheit. Neuerdings aber gilt in den  Biotech-Laboren manches Bestreben der „Verbesserung“ des eigentlich gesunden Menschen. Die Schönheitschirurgie ist da bloß modischer Prolog. Pharmazeutisch, prothetisch und genetisch optimierte Gliedmaßen, Sinnesorgane, Gehirnfunktionen werden folgen. Was vielleicht als Segen für Kranke und Behinderte beginnt, kann alsbald Gesunde zu Menschmaschinen aufrüsten.

Science Fiction? Nein, die Entwicklung läuft bereits (s. zB Titelthema im "Spiegel" Nr.49/2013). Gerade wird die menschliche Natur unter biotechnologischen Gesichtspunkten neu vermessen. Woraus gewollt oder ungewollt die Versuchung erwächst, sie künstlich ad hoc auf eine vermeintlich höhere Entwicklungsstufe katapultieren zu wollen. Auf eine Stufe, die besser zu den Anforderungen der digitalen Wachstumsmoderne passt. Mag sein, dass unser Verstand das noch packen würde. Die Seele aber, das Menschliche schlechthin nimmt unvermeidlich Schaden.

Weshalb jetzt gestresste Zeitgenossen in wachsender Zahl um persönliche Entschleunigung ringen. Seltsamerweise kommen dabei teils die gleichen Instrumente zum Einsatz wie bei den Selbstoptimierern. Das rührt vom Trugschluss, ein paar „Ruhezeitinseln“, ein bisschen Yoga, Sport, Wellness, Achtsamkeit oder einige Tage im Kloster könnten das Leben wieder ins Gleichgewicht bringen – um es dann erneut ins nach wie vor beschleunigende Hamsterrad zu stürzen. So aber wird das kaum klappen mit dem lebenswerten Leben. Dazu muss man wohl entweder als Individuum einen weit größeren Abstand zum Rad suchen oder als Gesellschaft auf die Bremse treten und es in eine andere Richtung lenken.

Andreas Pecht

Erstabdruck/-veröffentlichung außerhalb dieser website am 2. Januar 2014

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