Thema Wissenschaft / Bildung
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2012-02-15 Serie "Wissen":

Folge 33
 

Keine Scheu vor großen Gefühlen


 
ana/ape. Wissenschaft, Technik, Industrie nahmen im 18./19. Jahrhundert einen gewaltigen Aufschwung. Doch die kühle Vernunft der neuen Zeit weckte zugleich eine Sehnsucht nach Herzenswärme: die Romantik entstand.


Im Volksmund, in der Werbung, im Fernsehen und Kino wird heutzutage das Wort Romantik meist verbunden mit schönen Landschaften, beeindruckenden Sonnenuntergängen, dem Kribbeln der Verliebtheit, Besinnlichkeit bei Kerzenschimmer und anderen das Gefühl angenehm ansprechenden Vorstellungen und Erscheinungen. Kurzum: Der romantische Zeitgeist der Gegenwart ist sentimental. Aber der eigentliche Begriff von Romantik und die gleichnamige historische Epoche vom ausgehenden 18. bis weit ins 19. Jahrhundert reichen über Sentimentalitäten hinaus.

Die Romantik war eine Weltanschauung, entstanden als Gegenbewegung zum überbordenden Vernunftglauben der Aufklärung und zum Umsichgreifen kalten Nützlichkeitsdenken im Zuge der beginnenden Industrialisierung. Diese Weltanschauung war kein in sich geschlossenes, konkretes Programm. Sie war eine Zeitströmung, die sich aus vielerlei unterschiedlichen, bisweilen widersprechenden Richtungen, Blickwinkeln, Denkarten, Kunstschulen und vor allem Gefühlen zusammensetzte. So konnte es kommen, dass Romantiker Keime sowohl für ein völkisch-rassisches wie ein freiheitlich-demokratisches Nationalverständnis legten.
 
Am Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert hatte die Aufklärung vor allem dem städtischen Bürgertum eine bis dahin nicht gekannte geistige und kulturelle Freiheit gebracht. Der Wert von Bildung war weithin anerkannt und das Bürgertum etablierte sich zusehends auch als Bildungsbürgertum. In den urbanen Cafés und Gasthäusern wurde über Gesellschaft und Politik diskutiert. In den Salons der Bürgervillen und aufgeklärten Adelshäuser speiste und musizierte man nicht nur gemeinsam, sondern las Zeitungen und Bücher, sprach über seinerzeit moderne Philosophie, Wissenschaft und Kunst.

Doch entwickelte sich gerade aus diesem fortgeschrittenen Umfeld heraus bald ein Gefühl des Mangels. Frust, würde man heute sagen. Woher, wieso? Die Französische Revolution hatte Hoffnungen auf eine neue, bessere Welt geweckt – sie aber mit ihrem Terror gleich wieder enttäuscht. Der fulminante wissenschaftliche Fortschritt schien alles erklären und ergründen zu können, von den Funktionsweisen der Gestirne bis zum kleinsten Muskel im menschlichen Leib. Doch je genauer der wissenschaftliche Blick wurde, umso fragmentarischer und banaler kam den Zeitgenossen die Welt und das eigene Dasein vor. Die neue Industrie schien alles möglich zu machen – brachte aber doch sogleich massenhaftes Elend mit sich, dazu Verstädterung ganzer Landstriche und nie gekannte Umnutzung der natürlichen Umwelt bis hin zu ihrer Zerstörung.

Der Fortschritt fegte das Geheimnisvolle, das Wundersame hinweg, stellte die alten religiösen Gewissheiten ebenso infrage wie das Gesellschaftsgefüge. Er zerlegte Pflanze, Tier, Mensch in immer kleinere funktionelle Einzelteile – bis kein Großes-und-Ganzes mehr erkennbar war, ja der Mensch sich selbst nicht mehr als ganzheitliches Wesen aus Körper, Geist und Seele erkannte. Diese Problemstellung ist uns auch heute bestens vertraut. Und tatsächlich schwappen romantisch gestimmte Bewegungen unterschiedlicher Ausprägung vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart in immer neuen Wellen durch die Geschichte. Was nicht wundert, verfolgt doch die wissenschaftliche, technische, industrielle Entwicklung weiter überwiegend die Richtung, die sie damals eingeschlagen hat.

Die frühen Romantiker empfanden die Welt als zerrissen, als gespalten in eine Sphäre des Gefühls und eine Späre kalter „Zahlen und Figuren“, wie der Schriftsteller Novalis es ausdrückte. Treibende Kraft der deutschen Romantik war eine Sehnsucht nach der Heilung der Welt, nach der Zusammenführung der Gegensätze zu einem harmonischen Ganzen. Auf dem Weg dorthin galt es, dem Gefühl, dem Herzen, der Seele, auch dem Recht auf Sehnsucht und Melancholie Geltung zu verschaffen. Und wie oft in solchen Fällen geht der Blick dann nach rückwärts, richtet sich auf vermeintlich „goldene Zeiten“ – auf früher, wo alles besser gewesen sein soll.

Eine der großen Strömungen innerhalb der Romantik pflegte deshalb die Idealisierung des Mittelalters. Ritterliche Tugenden wurden beschworen, uralte Minne- und Heldensagen wurden ausgegraben und erlebten eine neue Blüte. An den deutschen Kunstakademien machten sich die „Nazarener“ breit, eine Malerschule, die mit ihren inbrünstigen Bildern einer Hinwendung zum religiösen Ideal des mittelalterlichen Katholizismus das Wort redeten. Die verfallenen oder in Kriegen zerstörten Mittelalterburgen etwa an Rhein und Mosel erfuhren plötzlich in Dichtung und Malerei eine ungeahnte Wertschätzung. Friedrich Schlegel schwärmte 1809 von der Erhabenheit der Burgen als Spuren menschlicher Kühnheit inmitten der wilden Natur.

Natur und die Hinwendung zu ihr wurden ein anderes zentrales Motiv der Romantik. Nicht zuletzt die Dichtung besang der Natur zarte Idylle ebenso wie ihre ungebärdige Wildheit. Und sie wurde als Aufenthaltsort jener geheimnisvollen Wesen und Kräfte poetisiert, die sich dem Zugriff der Wissenschaft entziehen, doch zur Welt gehören würden. Hier begegnen wir Joseph von Eichendorff und Friedrich Hölderlin, aber auch Heinrich Heine und E.T.A. Hofmann. In der Literatur wie in der Bildenden Kunst nahmen die Romantiker – oft im Streite – Abschied von den Maximen des Klassizismus. Dessen an der Antike orientierten strengen Form- und Gestaltungsvorschriften erschienen ihnen als inhaltsleere, die künstlerische Schöpferkraft behindernde Fesseln. Dichter, Maler, Musiker sollten fortan frei sein, ihr Gefühl in je eigener individueller Weise auszudrücken.
 
Caspar David Friedrich malte sein berühmtes Bild „Wanderer über dem Nebelmeer“, das einen einsamen (Stadt-)Menschen mit der überwältigenden Natur konfrontiert. Alle Regeln klassischer Malerei über den Haufen werfend, verschafft sich das pure Empfinden eine angemessene Ausdrucksform. Da spricht frei heraus der Genius des Künstlers, wie überhaupt die Romantik das erste Zeitalter des Genie-Kults war. Zugleich erhob sie auch das Volkstümliche als das angenommen Echte und Unverfälschte zu einem Ideal der Kultur. Die Gebrüder Grimm sammelten Volksmärchen, Clemens Brentano und Achim von Arnim gaben ab 1805 die Volksliedsammlung „Des Knaben Wunderhorn“ heraus.
Zum einsamen Beisichsein, auch zum Rückzug manches unverstandenen Romantikers von der umtriebigen Gesellschaft, tritt in dieser Epoche das Streben nach Gemeinschaft, Freundschaft, Brüderschaft – nach Harmonie auf der Grundlage vermeintlich uralter gemeinsamer Wurzeln. Gemeinsamkeiten in Sprache, Liedern, Märchen, Traditionen, Geschichtsbild und Heimatgefühl sollten jenen Bruch kitten, den gemäß romantischer Vorstellung die vernunfts- und geschäftsbetonte Moderne jener Zeit in die Welt geschlagen hatte.
 
Nicht zuletzt aus diesem Humus erwuchs im Kleinstaaten-Deutschland ein Nationalgedanke. Und keineswegs nur hier erhob sich das hehre Gefühl, Teil einer Nation zu sein, über das alte Feudalprinzip der Zugehörigkeit zu Herrschaftsgebieten. Der Nationalgedanke spaltete sich bald in unterschiedliche Entwicklungslinien auf. Von denen führte eine zum Hambacher Fest und der Forderung nach einem freien Deutschland in einem Europa freier Völker und Nationen. Eine andere aber mündete in jenen Nationalismus ein, der wesentliche Mitverantwortung trug für den Hass zwischen Nachbarvölkern und die furchtbarsten Kriege der bisherigen Menschheitsgeschichte.


Zusatzinfos

Ein zentrales Symbol der Romantik ist die "blaue Blume", erstmals von Novalis verwendet im Romanfragment "Heinrich von Ofterdingen" (1802). Es wurde reichlich gemutmaßt, welches reale Gewächs damit gemeint sei. Ob Kornblume, Wegwarte oder Sonnenwende ist allerdings belanglos. Denn im romantischen Sinne ist "blaue Blume"vor allem ein ideeller Begriff, der die Sehnsucht nach der harmonischen Verbindung von Natur, Mensch und Geist ausdrückt. Der Begriff symbolisiert das Streben nach Begreifen der Natur, aus dem nach romantischer Vorstellung erst wahre Erkenntnis des individuellen menschlichen Selbst erwachsen könne.

Zu Unrecht fast vergessen
sind bedeutende Frauen der Romantik. Rahel Varnhagen und Bettine von Arnim gehören dazu, beide Schriftstellerinnen von Rang. Beide sind trotz ihrer romantischen Poesie zeitlebens aufklärerisch engagiert für die Emanzipation der Frauen und des Judentums. Einige der wertvollsten Romantikgedichte schrieb Karoline von Günderrode. Kühn opponierte sie gegen das Frauenverständnis ihrer Zeit, an dem sie und ihre Liebe letztlich aber scheiterte: 26-jährig beging sie in Winkel am Rhein Selbstmord.


Lesen Sie in Folge 34:
∇  Die Musik der Romantik 
 


                                                      ***
   

Impressum: Der obige Haupttext entstand in Anlehnung an einen Vortrag, den Barbara Abigt im Rahmen der Akademie der Marienberger Seminare gehalten hat. Die Textbearbeitung für den Abdruck besorgten Andrea Mertes und Andreas Pecht. Für den Inhalt verantwortlich: Marienberger Seminare e.V. 

Der 80-minütige Originalvortrag ist als Audio-CD mit bebildertem

Begleitheft zu beziehen bei Marienberger Seminare e.V.,

Tel. 02661/6702.

Weitere Infos: >> www.marienberger-akademie.de

Die Reihe „Wissen – Reise durch die Kultur- und Geistesgeschichte“ ist eine Kooperation zwischen Rhein-Zeitung und Marienberger Seminare e.V., sie wird gefördert vom Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Jugend und Kultur des Landes Rheinland-Pfalz.


(Erstabdruck 7. Woche im Februar 2012)

                                                   ***

Bisher erschienene Folgen:

2011-04-02 Prolog/Einführung:
Eine Reise durch die Kultur- und Geistesgeschichte

2011-04-02a Folge 1: Mensch zwischen Natur und Kultur

2011-04-23 Folge 2: Die Menschen werden sesshaft

2011-04-30 Folge 3: Ein etwas anderer Blick auf Familie

2011-05-07 Folge 4: Abschied vom magischen Zeitalter

2011-05-14 Folge 5: Die Wurzeln des Abendlandes

2011-05-21 Folge 6: Wie die Demokratie nach Europa kam

2011-05-28 Folge 7: Rom und die Grenzen des Wachstums

2011-06-25 Folge 8: Wie das Denken sich selbst entdeckte

2011-07-02 Folge 9: Die Vordenker aus Griechenland

2011-07-09 Folge 10: Vorhang auf für das antike Theater

2011-07-25 Folge 11: Ursprünge der abendländischen Musik

2011-07-30 Folge 12:  Antike Naturwissenschaft

2011-08-07 Folge 13: Antike Architektur

2011-08-20a Folge 14: Bildende Kunst der Antike

2011-08-27a Folge 15: Kindertage des Christentums

2011-09-30 Folge 16: Kriegszüge im Zeichen des Kreuzes

2011-10-24b Folge 17: Romanik und Gotik

2011-11-07 Folge 18: Mittelalterliche Städtebildung

2011-11-15 Folge 19: Das seltsame Ideal der "hohen Minne"

2011-11-24 Folge 20: Eine neue Macht erwacht - die Liebe

2011-11-24a Folge 21: Mainzer Drucker verändert die Welt

2011-12-08 Folge 22: Die Erde dreht sich um die Sonne

2011-12-15 Folge 23: "Moderne" Naturwissenschaft beginnt

2011-12-15a Folge 24: Die Renaissance

2011-12-22b Folge 25: Luther und die Reformation

2012-01-02a Folge 26: Calvinismus und Kapital

2012-01-05 Folge 27: Der Dreißigjährige Krieg

2012-01-12 Folge 28: Die Geburt der Oper im Barock

2012-01-18 Folge 29: Die Aufklärung

2012-01-24a Folge 30: Immanuel Kant

2012-02-05 Folge 31: Die Französische Revolution

2012-02-11 Folge 32: Preußens Revolution von oben


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