Thema Wissenschaft / Bildung
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2011-05-14 Serie "Wissen":

Folge 5
 

Die Wurzeln des Abendlandes

 
ape. Im ersten Jahrtausend vor Christus entdeckt sich der Mensch als Individuum. Er nimmt Abschied von Naturgeistern und Stammesgöttern. Jeder muss nun Verantwortung für sich   übernehmen und sein Verhältnis zum einzigen Gott der neuen Weltreligionen klären.

Vergangene Woche haben wir festgestellt, dass auf dem Entwicklungsweg vom Jäger und Sammler über die Sesshaftwerdung bis zu den Hochkulturen der Bronze- und Eisenzeit (2200 bis etwa 700 vor Christus) dem Menschen jenes Lebensgefühl abhanden kam, das ihn zuvor über Jahrzehntausende begleitet hatte: Die Einbettung in die von unzähligen Geistern beseelt geglaubte Natur und die Geborgenheit in der Überlebensgemeinschaft der Steinzeitsippe.

Der Mensch entdeckt sich als Individuum. Mit diesem Erkenntnisprozess eng zusammen hängt die Ablösung der Natur- und Volksreligionen durch das Aufkommen der ersten Universalreligionen in der „Achsenzeit“ (800 bis 200 vor Christus). Worin nun besteht der Unterschied zwischen beiden Arten des Glaubens? In den Volksreligionen hat sich der Einzelne selbst als Individuum noch nicht entdeckt. Er lebt wesentlich als Teil eines natürlichen Kollektives, seiner Familie, seiner Sippe, seines Clans, seines Stammes, seines Volkes. Das „Heil“ (der Sinn) ist gegeben in der Anteilnahme an der Pflege positiver Beziehungen mit den zur Gemeinschaft gehörenden Gottheiten. Unheil entsteht dann, wenn man verstoßen wird aus dem Kollektiv. 

Die Götter der Volksreligion sind ausschließlich auf die eigene Gemeinschaft  bezogen: Jedes Volk, jeder Stamm, ja bisweilen auch jede Sippe oder Familie hat eigene Götter. Die Ethik der Volksreligion ist ganz auf die Interessen der jeweiligen Volks- oder Lebensgemeinschaft bezogen. Fremde haben keinen Anspruch auf Schutz und Freundlichkeit von Seiten dieser Götter und der ihnen zugehörigen Gemeinschaften.

Die Volksreligionen werden im Verlauf der Achsenzeit überwiegend durch Universalreligionen (Weltreligionen) wie Hinduismus, Buddhismus, die universale Gottesidee der griechischem Tragiker oder das Judentum abgelöst. In späteren Jahrhunderten kommen Christentum und Islam hinzu.  Die Weltreligionen verbreiteten sich unter vielen ganz verschiedenen Völkern. Sie wenden sich, im Gegensatz zur Volksreligion, vornehmlich an den Einzelnen. Es geht nämlich erstmals um sein individuelles Heil. Er persönlich muss erlöst werden, will er ins Paradies einziehen und ewig leben. Nur durch Verbundenheit mit dem einen Gott ist nun das Heil noch möglich. Es entstehen Wahlgemeinschaften, die für viele Menschen nicht selten bedeutsamer werden als die Zugehörigkeit zu Volk oder Familie: Glaubensgemeinschaften, Kirchen, Orden, Jüngerkreise –  so vorgelebt von Religionsstiftern wie Buddha oder Jesus, die ihre Familien verließen und umherzogen, um neue Freunde (Anhänger) zu gewinnen.

„Eine Kultur, das ist nicht zuletzt der gemeinsame Schatz von Geschichten, der eine Gesellschaft zusammenhält“, schreibt Dietrich Schwanitz in seinem Bestseller „Bildung. Alles was man wissen muss“ aus dem Jahr 1999. Suchen wir in den fast weltumspannenden Umbrüchen der Achsenzeit nach den Wurzeln dessen, was nachher die „abendländische Kultur“ genannt wird, so stoßen wir nach Schwanitz auf zwei zentrale Texte: „die jüdische Bibel und das griechische Doppelepos von der Belagerung Trojas – die Ilias – und die Odyssee, die Irrfahrt des listenreichen Odysseus vom zerstörten Troja nach Hause zu seiner Frau Penelope.“

„Ilias“ und „Odyssee“ gehören zu den ältesten Epen des Abendlandes und werden dem griechischen Dichter Homer zugeschrieben. Es wird allerdings angenommen, dass Homer dafür zumindest teilweise auf mündlich überlieferte Mythen noch älterer Zeit zurückgriff. Der Dichter soll im 8. Jahrhundert vor Christus gelebt haben; letztgültige Gewissheit darüber gibt es jedoch nicht. Im 19. Jahrhundert ging man zeitweise sogar davon aus, dass Homer eine antike Erfindung sei, eine fiktive Gestalt. Nach jüngeren Forschungen gilt er heute aber wieder als reale historische Person.

„Ilias“ und „Odyssee“ sind  literarisch-geniale Aufarbeitungen des Themas Individualisierung und Einsamkeit. Kurz ein Blick in „Odyssee“: Der Held Odysseus hat seine Heimat, seine junge Frau und seinen kleinen Sohn zurücklassen müssen, um gezwungenermaßen gegen Troja ins Feld zu ziehen. Nach zehn Jahren Krieg macht er sich mit den Gefährten auf den Rückweg in seine Heimat Ithaka. Doch unterwegs muss er in zahllosen Abenteuern alles an Geschicklichkeit, Mut und Verstellungskunst bis hin zur Selbstverleugnung aufbringen, um dies Ziel zu erreichen.

Zunächst (in der „Ilias“) bewegt sich Odysseus noch im Rahmen der damals traditionellen Vorstellung vom klugen, listenreichen Kriegshelden. Doch in der „Odyssee“ wird er zu einer Figur, die durch ihre Verluste, ihre Versuchungen und Bedrohungen zum Symbol für das Individuum wird. Immer wieder ist er Verlockungen und Gefahren ausgesetzt, die nicht nur sein Leben, sondern seine
Persönlichkeit und sein eigentliches Trachten, nach Hause zu kommen, bedrohen. „Nach Hause
kommen“ ist ein sprachliches Bild für die Aufhebung von Ungewissheit, Isolierung und Einsamkeit.

Im mythischen Denken waren Geister- und Götterwelt noch nicht von der materiellen Welt geschieden. Odysseus lernt auf seiner Irrfahrt – durch Vernunft – sich von den mythischen Mächten zu emanzipieren. Wir erleben bei ihm die Ablösung des mythischen Denkens durch das logische Denken, das in Griechenland bald darauf zur ausgeformten Philosophie führen wird. Bezeichnenderweise muss Odysseus nach allen überstandenen Abenteuern, bevor er Frieden finden kann, erst noch anderen Menschen die Sehnsucht nach dem Meer bringen. Er muss quasi missionieren, auf dass Andere es ihm gleichtun und sie sich hinauswagen, um im Ringen mit unbekannten Gefahren eine eigene Identität zu erlangen.

Die großen Dichtungen Homers dokumentieren den Übertritt des Menschen vom naturgegebenen Kollektivwesen zum seiner selbst bewusst werdenden Individuum. Die jüdische Bibel, die wir altes Testament nennen, tut Vergleichbares. Zwar wenden sich ihre Autoren immer wieder an das gesamte Volk Israel. Und zumeist geht es in den diversen, vor allem zwischen dem 8. und 5. Jahrhundert vor Christus entstandenen Schriften der Propheten und Psalmisten zentral um das Schicksal und die Erlösung eben dieses einen („auserwählten“) Volkes.

Insofern muss das alte Judentum einerseits zwar als Volksreligion gelten. Andererseits aber erzählen zahlreiche der alttestamentarischen Geschichten bereits von persönlichen, individuellen Beziehungen, ja auch Konfrontationen zwischen einzelnen Menschen und dem in dieser Religion    einzigen Gott Jahwe. Damit reiften innerhalb der jüdischen Volksreligion während der Achsenzeit die Potenziale heran, zu einer universalen Weltreligion zu werden. Was die jüdische Religion dann auch geworden ist – ebenso wie nachher ihre beiden Ableger Christentum und Islam.

Wie die Geschichten der griechischen Antike so verschwinden heute auch die biblischen Inhalte, gerade die alttestamentarischen, zusehends aus dem allgemeinen Bewusstsein. Das wirft ein Problem auf, egal ob man nun gläubig ist oder nicht: Weite Bereiche unserer Kultur gehen auf jene uralten „Erzählungen“ zurück; nicht nur in den Künsten, sondern auch in Wissenschaft und Rechtsprechung, Ethik und Moral. Malerei, Literatur, Musik, Theater schöpften über Jahrhunderte aus diesen Quellen, die auch unser Welt- und Menschenbild bis in die Gegenwart prägen. Wer aber von den Wurzeln nichts mehr weiß, der wird auch immer weniger von dem begreifen, was daraus nachher erwachsen ist.

Zusatzinfos

In Israel waren es ab dem 8. vorchristlichen Jahrhundert Propheten wie Amos, Hosea, Micha und die anonymen Autoren der Weisheitsbücher der Bibel, z. B. des Buches Hiob und Kohelet (Prediger) bis hin zu den Talmud-Rabbinern, und der Jude Jesus von Nazaret, genannt Christus (der Gesalbte), die vom Individuum her dachten und empfanden. Jesus stiftete dann vor 2000 Jahren eine neue Weltreligion der "Gotteskindschaft und der Liebe" (Mensching): Es entstand das Christentum auf Basis vor allem des Neuen Testaments. Auf dem Boden der arabischen Volksreligion - und in genauer Kenntnis auch des Judentums und des Christentums - wurde dann von Mohammed im 7. Jahrhundert nach Christus eine letzte Buchreligion begründet: der Islam, dessen Schriftgrundlage der Koran ist.

Als Bibel bezeichnen Judentum und Christentum jeweils eigene Textsammlungen, die für sie als "Heilige Schrift" das Wort Gottes enthalten. Es handelt sich um Zusammenstellungen von "Büchern" (griechisch: biblia), die im Verlauf von etwa 1200 Jahren entstanden und vielfach bearbeitet worden sind. Bis zum 2. Jahrhundert v. Chr. bildete sich so die jüdische Bibel, die später durch den Talmud ergänzt wurde. Die ursprüngliche hebräische Bibel bezeichneten die Christen später als "Altes Testament" und ergänzten diese mit ihrem "Neuen Testament", das heißt den Glaubenszeugnissen über Jesus und weiteren Dokumenten aus der Geschichte der jungen Kirche.

 
Lesen Sie in Folge 6:
> Wie die Demokratie nach Europa kam

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Impressum: Der obige Text entstand auf Basis eines Vortrages, den Prof. Dr. Jürgen Hardeck im Rahmen der Akademie der Marienberger Seminare gehalten hat. Die Textbearbeitung für den Abdruck besorgten Andrea Mertes und Andreas Pecht. Für den Inhalt verantwortlich: Marienberger Seminare e.V. 

Der 80-minütige Originalvortrag ist als Audio-CD mit bebildertem

Begleitheft zu beziehen bei Marienberger Seminare

e.V., Tel. 02661/6702, email: mail@marienberger-seminare.de.

Weitere Infos: >> www.marienberger-akademie.de

Die Reihe „Wissen – Reise durch die Kultur- und Geistesgeschichte“ ist eine Kooperation zwischen Rhein-Zeitung und Marienberger Seminbare e.V., sie wird gefördert vom Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Jugend und Kultur des Landes Rheinland-Pfalz.


(Erstabdruck 14. Mai 2011)

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Bisher erschienene Folgen:

2011-04-02 Prolog/Einführung:
Eine Reise durch die Kultur- und Geistesgeschichte

2011-04-02a Folge 1: Der frühe Mensch zwischen
Natur und Kultur


2011-04-23 Folge 2: Die Menschen werden sesshaft

2011-04-30 Folge 3: Ein etwas anderer Blick auf Familie

2011-05-07 Folge 4: Abschied vom magischen Zeitalter

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Wer oder was ist www.pecht.info?
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