Thema Wissenschaft / Bildung
homezur Startseite eMail an Autor • eMail to author • contact auteureMail an den Autor Seitenübersicht • sitemap • Plan du siteÜbersicht sitemap Seite drucken • site print • imprimer siteArtikel drucken

2011-11-15 Serie "Wissen":

Folge 19
 

Das seltsame Ideal der „hohen Minne“


 
ana/ape. Frühmittelalter – chaotische, finstere Übergangszeit nach dem Zerfall der römischen Antike. Erst die Karolinger brachten wieder etwas Ordnung nach Europa. Und die Minne-Bewegung verfeinerte die rohe Burg- und Hofkultur.


Es ging rau her zur Zeit der Merowinger und der sie im späten 8. Jahrhundert verdrängenden Karolinger. Selbst in herrschaftlichen Wohntürmen (nachher Burgen) oder an „fürstlichen Höfen“ ging es in jener Übergangsepoche bisweilen kaum anders zu als 1000 Jahre vorher bei germanischen Häuptlingssippen. Die römische Antikenkultur war eben untergegangen, das Abendland brauchte Zeit, um aus der folgenden Finsternis mühsam eine neue Kultur zu entwickeln.

Auf dem Weg dahin erwies sich Augustinus (354 – 430) als Pionier. Er setzte dem ungeschlachten Denken seiner Zeitgenossen das Ideal einer zwischenmenschlichen Liebe entgegen. Der Kirchenlehrer und Philosoph ersetzte den von Sinnlichkeit bestimmten Liebesbegriff der Antike durch Nächstenliebe. Diese „Caritas“ war für Augustinus eine Ableitung aus der Gottesliebe. Daher ist Nächstenliebe nicht sinnlich, sie ist vielmehr selbstlos und äußert sich im Beistand für den Nächsten und im Almosengeben. Das augustinische Liebesideal hatte im mittelalterlichen Denken bis ins 12. Jahrhundert einiges Gewicht. Das hielt freilich weder kirchliche noch weltliche Macht ab, brutal mit Peitsche und Schwert zu walten.

Der Mangel von Augustinus‘ Liebesbegriff besteht darin, dass er der Liebe zwischen den Geschlechtern keinen angemessenen Platz zuweist. Weshalb sich ab dem 11. Jahrhundert die Sinnlichkeit wieder zu Wort meldete. Als Gegengewicht zur asketischen Strenge der Caritas betritt die „höfische Liebe“ oder „hohe Minne“ die Bühne. Diese neue Form einer Gefühlskultur – meist zwischen ledigem Kavalier und verheirateter Dame – ist zugleich eine Reaktion auf die brutale Sittenanarchie des Feudalherrentums.

Eben fromm beten, gleich drauf ein „Weib“ ehelichen, allein um reicher zu werden und/oder aus machtpolitischem Kalkül, das war für die Herren nicht nur jener Zeit kein Widerspruch. Wenn solches Ehe-„Geschäft“ nicht wie erwartet ausfiel, wurde die Frau kurzerhand verstoßen. Solchen Verhältnissen, die Anlass für unendliche Streitereien bis hin zum Krieg waren, setzte die höfische Liebe eine Treue entgegen, die unabhängig war von der legalen Ehe und allein auf der Zuneigung des Herzens aufbaute. Ja, das Ideal der höfischen Liebe ging sogar soweit, Ehe und Liebe als eigentlich unvereinbar zu betrachten. Kein Wunder bei der kalten Geschäftsmäßigkeit und Rohheit, die mit herrschaftlichen Ehen damals zumeist einhergingen.

Zwei weitere Faktoren spielten für das Aufkommen der höfischen Liebe eine entscheidende Rolle. Erstens: Durch die Kreuzzüge kam das Abendland mit der seinerzeit deutlich fortgeschritteneren Kultur der islamischen Welt in Berührung. Die ungehobelten Ritter aus dem Norden staunten nicht schlecht über die ungleich zivilisierteren Umgangsformen ihrer muslimischen Standesgenossen. Sie brachten manch neue Idee mit nach Hause und viele entwickelten eine Aufgeschlossenheit für Veränderungen, die sich während der Salier- und Stauferzeit des 11. bis 13. Jahrhunderts in Europa breitmachten.

Auch der letzte Faktor, der das Aufkommen der höfischen Liebe im mittelalterlichen Abendland beförderte, hat mit der Begegnung zwischen christlicher und islamischer Kultur zu tun: Das neue Liebesideal sickerte vom Südwesten Frankreichs her ein, wo die maurischen Liebeslieder aus dem islamischen Spanien schon weite Verbreitung gefunden hatten. Einer der bedeutendsten Vertreter der hohen Minne war der aus Andalusien stammende Ibn Hazm (994 – 1064). Er schrieb Werke wie das „Handbuch der Liebe“ oder „Das Halsband der Taube“, in denen es um die Kunst der zarten Herzens-Verführung geht. Seine Schriften zielen auf die poetische Anbetung einer (leiblich) unerreichbaren Geliebten. So dichtete er etwa: „die Einheit der Seelen ist tausendmal schöner als jene des Körpers“. Letztlich führte das, vor allem im 12. Jahrhundert zu einer Art Revolution der abendländischen Psyche: Liebe und selbst Erotik wurden nunmehr als etwas Geistiges, Mystisches, Geheimnisvolles zwischen Mann und Frau auch und gerade jenseits der Ehebande betrachtet.

Die höfische Liebe begann als Literatur. Das heißt, sie war zunächst eine Erfindung der Troubadoure (wörtlich: „Erfinder von Versen“). So nannten sich die Minnesänger aus der Provence, wo diese Art Dichtung entstand. Die höfische Liebe war also zunächst nichts weiter als eine literarische Fiktion; aber sie ging bald in die reale Welt über. Wir haben es hier mit dem seltenen Phänomen zu tun, dass die Literatur keine Reaktion auf die Realität ist, sondern das reale Leben die Kunst nachahmt.

Die höfische Liebe ist eine Liebe außerhalb der Ehe, denn Liebe in der Ehe bedeutet nach Ansicht der Troubadoure bloß Vereinigung der Leiber. Wahre Liebe hingegen bedeutet ein Aufstreben zu idealer seelisch-geistiger Vereinigung. Daher setzt diese Liebe unbedingte Keuschheit voraus. Der „hohen Minne“ ging es nicht um sinnliche Befriedigung, sondern um ein gesteigertes Fühlen und ein Verlangen, das sehnsüchtig ausharrt. Natürlich wurde diese heute nur schwer begreifbare Kulturpraxis in der Realität immer wieder mal zum lebensgefährlichen Spiel mit dem Ehebruch, zur „niederen Minne“. Im Sinne des Ideals musste solch leiblich vollzogene Liebe als völlig gescheitert gelten.

„Höfische Liebe“ bedeutet also eine Art von idealisierter Beziehung in der Regel zwischen einer hochgeborenen Dame und einem romantischen Kavalier. Die Dame war mit einem mächtigen Feudalherrn verheiratet. Was den Verehrer bedrückte, war weniger ihr Ehemann, sondern in erster Linie ihr Rang, war der Standesunterschied. Der Kavalier bemühte sich, ihrer wert zu werden, und – wenn er Glück hatte – gelang es ihm, ihre Liebe zu gewinnen. Um des guten Rufes der Angebeteten willen musste ihre Liebe aber verborgen bleiben; sie wurde zum Geheimnis.
Die Troubadoure sangen nie von vollzogener Liebe. Von daher hat man es bei der Minnelyrik mit einer Verherrlichung unglücklicher, ewig unbefriedigter Liebe zu tun. Modern gesprochen: Die höfische Liebe des 11. und 12. Jahrhunderts war sublimierte Sexualität – nach Sigmund Freud ein unbefriedigter Geschlechtstrieb, der sich in kulturelle Leistungen umsetzt, hier eben in Form der „hohen Minne“.

Sich dieses Phänomen nur als verquaste kulturelle Mode in mittelalterlichen Adelskreisen vorzustellen, würde zu kurz greifen. Denn das damals weit verbreitete Liebesideal hatte eine eminent soziale und sozialisierende Funktion. Es führt zur Ausbildung jener ritterlichen Tugenden, die Jahrhunderte später die Romantik zu ihrem Rückgriff auf das vermeintlich „Goldene Zeitalter“ edler Ritterlichkeit inspirieren sollte: Beständigkeit, Beharrlichkeit, Treue, Selbstbeherrschung, Ehre. Um diese Tugenden gruppierten sich die sogenannten „Gesetze der Liebe“, die sich zu Beginn des zwölften Jahrhunderts ausbildeten und wie ein Ritual festgelegt waren. Sie verlangten: Maß, Ziel, Heldentum, langes Warten, Keuschheit, Geheimniswahrung und Gnade.

So führte das Ideal der höfischen Liebe einerseits – auf Seiten des Verrehrers – zur Ausbildung bestimmter Tugenden und zur „Veredelung“ seines Innern. Je höher und unerreichbarer das Ziel war, umso tugendhafter musste er werden – umso stärker war allerdings auch die innere Spannung. Das Erotische wurde vom Sexus getrennt und fast spirituell oder mystisch erlebt. Auf der anderen Seite führte die Kultur der hohen Minne neben einer tatsächlichen Sitten-Verfeinerung beim Adel dazu, dass binnen nur eines halben Jahrhundert sich die vormals kaum beachtete und selten geachtete Frau in die „verehrte Dame“ verwandelte.


Zusatzinfos

Revolution auf dem Schachbrett: Die neuartige Wertschätzung für die Frau - zumindest die hochstehende Adelsfrau -, die mit der Verbreitung des Ideals höfischer Liebe im Mittelalter einherging, fand während des 12. Jahrhunderts auch in einer dramatischen Veränderung des Schachspiels ihren Niederschlag. Das Brettspiel Schach kommt aus Indien und wurde ursprünglich mit vier Königen gespielt, die das Spiel beherrschten. Im 12. Jahrhundert aber bildeten sich neue, heute noch gültige Regeln heraus. Die Dame erhielt jetzt die Dominanz über alle anderen Figuren; und es gab auf jeder Seite nur noch einen König. Dessen Aktionsradius wurde zudem auf ein Minimum reduziert: Er kann sich immer nur um ein Feld weiterbewegen (Ausnahme: Rochade).

Verse des Troubadours Arnaut Daniel: "Ich liebe sie und trachte nach ihr mit so mächtigem Sehnen, dass ich aus übergroßem Verlangen all mein Verlangen schwinden glaube, wenn man überhaupt dadurch, dass man liebt, etwas verlieren kann. Denn ihr Herz überflutet das meine so völlig mit einer Flut, die nicht mehr verraucht. Ich will weder das Römische Reich noch will ich, dass man mich zum Papst wählt, wenn ich nicht zu ihr zurückkehren darf, für die mein Herz entflammt ist. Aber wenn sie meine Qual nicht mit einem Kuss heilt, bevor das neue Jahr beginnt, so vernichtet sie mich und verdammt sich selbst."


Lesen Sie in Folge 20:
∇ Eine neue Macht erwacht: die Liebe

                                     ***

Impressum: Der obige Haupttext entstand auf Basis eines Vortrages, den Barbara Abigt im Rahmen der Akademie der Marienberger Seminare gehalten hat. Die Textbearbeitung für den Abdruck besorgten Andrea Mertes und Andreas Pecht. Für den Inhalt verantwortlich: Marienberger Seminare e.V. 

Der 80-minütige Originalvortrag ist als Audio-CD mit bebildertem

Begleitheft zu beziehen bei Marienberger Seminare e.V.,

Tel. 02661/6702.

Weitere Infos: >> www.marienberger-akademie.de

Die Reihe „Wissen – Reise durch die Kultur- und Geistesgeschichte“ ist eine Kooperation zwischen Rhein-Zeitung und Marienberger Seminare e.V., sie wird gefördert vom Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Jugend und Kultur des Landes Rheinland-Pfalz.


(Erstabdruck 15. November 2011)

                                                 
***

Bisher erschienene Folgen:

2011-04-02 Prolog/Einführung:
Eine Reise durch die Kultur- und Geistesgeschichte

2011-04-02a Folge 1: Mensch zwischen Natur und Kultur

2011-04-23 Folge 2: Die Menschen werden sesshaft

2011-04-30 Folge 3: Ein etwas anderer Blick auf Familie

2011-05-07 Folge 4: Abschied vom magischen Zeitalter

2011-05-14 Folge 5: Die Wurzeln des Abendlandes

2011-05-21 Folge 6: Wie die Demokratie nach Europa kam

2011-05-28 Folge 7: Rom und die Grenzen des Wachstums

2011-06-25 Folge 8: Wie das Denken sich selbst entdeckte

2011-07-02 Folge 9: Die Vordenker aus Griechenland

2011-07-09 Folge 10: Vorhang auf für das antike Theater

2011-07-25 Folge 11: Ursprünge der abendländischen Musik

2011-07-30 Folge 12:  Antike Naturwissenschaft

2011-08-07 Folge 13: Antike Architektur

2011-08-20a Folge 14: Bildende Kunst der Antike

2011-08-27a Folge 15: Kindertage des Christentums

2011-09-30 Folge 16: Kriegszüge im Zeichen des Kreuzes

2011-10-24b Folge 17: Romanik und Gotik

2011-11-07 Folge 18: Mittelalterliche Städtebildung


---------------------------------------------------------
Wer oder was ist www.pecht.info?
---------------------------------------------------------

 
Diesen Artikel weiterempfehlen was ist Ihnen dieser Artikel
und www.pecht.info wert?
 
eMail an Autor • eMail to author • contact auteureMail an den Autor
eMail an webmaster • eMail to webmaster • contact webmastereMail an webmaster Seitenanfang • go top • aller en-hautan den Anfang Seite drucken • site print • imprimer siteArtikel drucken