Thema Wissenschaft / Bildung
homezur Startseite eMail an Autor • eMail to author • contact auteureMail an den Autor Seitenübersicht • sitemap • Plan du siteÜbersicht sitemap Seite drucken • site print • imprimer siteArtikel drucken

2011-05-21 Serie "Wissen":

Folge 6
 

Wie die Demokratie nach Europa kam

 
ana/ape. Rund um die Ägäis entstand vor 2700 Jahren das Abendland. In Kunst und Philosophie, Naturwissenschaften und Politik schufen die alten Griechen Prototypen der Moderne. Darunter findet sich ein echter Exportschlager: die Demokratie. Ersonnen im antiken Athen, lebt die Idee der Volksherrschaft bis heute fort.


Wie kamen die Menschen der Antike dazu, sich selbst zu regieren? Die Anfänge liegen im 7. Jahrhundert vor Christus. Sie hängen zusammen mit der Entwicklung der Polis – einem politischen und wirtschaftlichen Gebilde, das mit dem Wort „Stadtstaat“ nur unzureichend übersetzt ist. Die Polis ist nicht nur eine Regierungs- sondern eine Lebensform. Es ist die Gemeinschaft von maximal 4000 Menschen einer Stadt und ihres Umlands, die autark leben, aber bestimmte Interessen – etwa den Kriegsfall – als Einheit vertreten. Mitglieder der Polis sind Adelsfamilien und freie Bauern.

Im Gegensatz etwa zu den Königreichen der Ägypter, Assyrer oder Perser kennt die Polis keinen Alleinherrscher. Es gehört zu ihrer Grundlage, dass politische Macht von mehreren ausgeübt wird. Zwar liegt die Herrschaft in den Händen des Adels, der die Führungsämter  jährlich neu unter sich aufteilt, die höchsten Regierungsbeamten (Archonten) stellt und den Adelsrat (Areopag) besetzt. Doch ist der Adel in keiner Polis so mächtig, dass er die Volksversammlung der freien Bauern ignorieren kann.

Hunderte solcher Stadtstaaten (Poleis) tauchen seit dem 8. Jh. vor. Chr. rund um die Ägäis  auf. Athen ist eine dieser Stadtstaaten – und keineswegs der glanzvollste. Das ändert sich im 6. Jahrhundert. Zu diesem Zeitpunkt ist der innere Friede der Athener Polis in Gefahr. Die sozialen Spannungen sind groß: Während der Adel Herrschaft und Gewinne unter sich aufteilt, sind viele Bauern hoch verschuldet und dadurch in Sklaverei geraten. Der Adel hat zuviel Macht an sich gerissen. Ein Aufstand droht. In dieser Lage wird ein Athener Adeliger namens Solon von der Volksversammlung zum Sonderbevollmächtigen berufen. Es ist der Moment, an dem der Wandel der Athener Polis zur Demokratie beginnt.

Solon setzt einen Schuldenerlass durch und befreit verarmte Bauern durch Abschaffung der Schuldknechtschaft aus der Sklaverei. Er reformiert die Finanzen, vereinheitlicht Maße und Gewichte und teilt die Bevölkerung in vier Vermögensklassen ein. Dank seiner Reformen richtet sich die Stellung des Einzelnen nicht mehr nach der Herkunft, sondern nach Besitz und Einkommen. Die Vorherrschaft des Adels ist aufgehoben. Solon lässt die grundlegenden Gesetze auf Tafeln schreiben und öffentlich aufstellen. Jeder Bürger kann sich darauf berufen. Die Verfassung wurde durch den Willen des Volkes geändert. Es ist die Geburtsstunde der Politik.

An der faktischen Machtverteilung in Athen ändert die neue Ordnung allerdings wenig. Denn weder Bauern noch Handwerker, Warenhändler oder Gastwirte haben die Zeit oder das Geld, um politisch tätig zu werden. Die Macht liegt weiterhin in den Händen der Reichen. Demokratisch ist die neue Ordnung noch nicht. Erst drei Generationen nach Solon tritt wieder ein Reformer an, für gerechten Ausgleich zu sorgen.

Kleisthenes heißt der Mann, der 508 v. Chr. die Sozialstruktur der Polis reformiert und damit die Basis legt für eine vitale Demokratie mit weitreichenden Möglichkeiten der Teilhabe durch das einfache Volk. Wobei das Wort „Basis“ eine Untertreibung ist: Die neue Verfassung ist mehr als eine Grundlage demokratischen Handelns. Sie ist ein komplexes und kompliziertes Gerüst, um die Macht im Staat auf viele Schultern zu verteilen. Sie ist ein Vorzeigemodell politischer Partizipation.

Ein Baustein der neuen Ordnung sind die Gemeinden (Demen). Jede Demos – ein Dorf oder ein Stadtviertel Athens – erhält eine kommunale Selbstverwaltung, in der die Einwohner über Dinge wie Gemeinbesitz oder Bauvorhaben abstimmen. Gleichzeitig teilt Kleisthenes die Polis in drei Regionen ein: Athen und Umland, Binnenland, Küste. Aus jeder dieser drei Regionen kommt jeweils eine Deme mit den anderen zu einem weiteren Gremium zusammen – der Phyle. Die gesamte Bevölkerung wird dadurch nach repräsentativen Kriterien neu zusammengesetzt. Männer aus Athen diskutieren nun mit Fischern von der Küste. Oder ziehen Seite an Seite mit Arbeitern aus den Bergen in den Krieg. Ein neues politisches Gemeinwesen entsteht, abseits von alter Klientelwirtschaft und aristokratischer Patronage. Athen rückt zusammen.

Neu ist auch der Rat der 500. Hier werden Gesetzesvorschläge erarbeitet, der Rat bereitet außerdem die Volksversammlung vor, in der jeder freie Mann Athens eine Stimme hat. Der Areopag, der alte Adelsrat, existiert weiter, ist aber in seiner Machtfunktion beschnitten. Neun Archonten – von der Volksversammlung gewählte Adelige – bilden die Exekutive und stellen unter anderem den Oberbefehlshaber der Armee. Das ebenfalls von der Versammlung gewählt Volksgericht stellt die Judikative. Damit üben die Athener die volle Gesetzgebungs-, Regierungs-, Kontroll- und Gerichtsgewalt über ihre Gemeinschaft aus. Der Staatsmann Perikles perfektioniert 461 v. Chr. das System, indem er Tagegelder (Diäten) einführt als Ausgleich für den Verdienstausfall, den Bürger durch die Teilnahme an Versammlungen und die Übernahme politischer Ämter erleiden.

Die Polis lebt vom Engagement der Bürger und von der gemeinsamen Sorge um das Gemeinwesen. Es ist eine Demokratie ohne Parteien: Stets sind es Einzelne, die sich durch Charisma und Rednergabe auszeichnen und Anhänger um sich scharen. Rund 30.000 stimmberechtigte Männer zählt die Bürgerschaft. Von der Polisdemokratie ausgeschlossen sind Frauen, Sklaven und Ausländer ohne Bürgerrecht (Metöken). 200.000 Menschen leben in Athen – damit regiert eine Minderheit über eine politisch kalt gestellte Mehrheit.

Dennoch: Athen, das noch im 5. Jahrhundert von Tyrannen beherrscht war, ist binnen weniger Generationen zu einer Demokratie geworden, in der Bürger nicht nur wählen, sondern auch Ämter bekleiden können. Das Selbstbewusstsein ist groß genug, um sich gegen das persische Großreich zu stellen. Es ist ein Kampf, den das Heer der zahlenmäßig unterlegenen Hellenen nicht gewinnen kann – und doch gewinnt. 490 v. Chr. zerschlägt die Phalanx der Athener die Invasionsflotte der Perser. Bürgersoldaten der Polis bezwingen die Söldner des Großkönigs. Die Griechen haben gezeigt, dass ein Staat, in dem die Stimme eines Tagelöhners ebenso viel zählt wie die eines Großgrundbesitzers, dass ein solcher Staat der mächtigsten Monarchie überlegen sein kann. Die neue Staatsform ist im Dorf Marathon an der Ägäisküste verteidigt worden. Randnotiz der Geschichte: Ein griechischer Bote soll damals die 42 km von Marathon bis Athen in einem Stück gelaufen sein und den Sieg gemeldet haben.

Stolz und selbstbewusst sind sie, die Kämpfer von Marathon und ihre Nachfahren. Athen, über Jahrhunderte politisch beinahe bedeutungslos, wird ab 491 v. Chr. immer mächtiger, wird von der Land- zur Seemacht – und beherrscht bald die Hälfte der griechischen Welt. Nur Sparta vermag es noch an Macht mit Athen aufzunehmen. Der Konflikt zwischen beiden bringt den Untergang. In seiner Zuspitzung beginnt im Jahr 431 v. Chr. der  Peloponnesische Krieg, in den fast alle griechischen Stadtstaaten als Verbündete der einen oder anderen Seite mit hineingezogen werden.

Das Morden dauert 25 Jahre. Dann kapituliert Athen, ausgeblutet und von seinen Bündnispartnern verlassen. Und doch gibt es keinen Gewinner. Auch das siegreiche Sparta war am Ende eine überforderte Macht, zu schwach, um Griechenland neu zu ordnen. Die Region wird von den makedonischen Königen erobert, die keinen Platz mehr lassen für autonome Stadtstaaten. Bis ab ca. 200 v. Chr. nach und nach Teile des griechischen Großreiches vom römischen Imperium geschluckt werden. 2000 Jahren vergehen, ehe das Ideal der Demokratie – nach den Worten Abraham Lincolns „Regierung des Volkes durch das Volk und für das Volk“ – wieder seine machtvolle Wirkung entfaltet.


Zusatzinfos

Wenn 2012 in London die Olympischen Sommerspiele beginnen, spricht die Welt wieder einmal Griechisch. Und zwar Altgriechisch. Denn die meisten europäischen Sprachen sind stark mit der Antike verbunden. Ob wir von der guten "Akustik", dem eigenen "Horizont" oder einem Besuch im "Zoo" reden: Griechisch ist überall. Auch in der Sportsprache. So war das "Stadion" ursprünglich ein Längenmaß von 600 Fuß. Die antiken Athleten übten sich in der "Gymnastik" - unter anderem im Speerwurf, Laufen oder Ringkampf. Die besten unter ihnen maßen sich alle vier Jahre vor Zehntausenden Zuschauern bei einem religiösen Fest in Olympia. Eine "Olympiade" meinte übrigens nicht das große Ereignis selbst, sondern den Zeitraum zwischen zwei Olympischen Spielen.

Die Antike schwelgte in marmornem Weiß? Welch ein Irrtum. Richtig ist vielmehr: Die alten Griechen mochten es ziemlich bunt. Sie staffierten ihre Götter und Helden vielfach in prächtigen Farben und mit reicher Ornamentik aus. Belegt ist das unter anderem durch Pigmentreste auf Marmorfiguren. Auch in den Schriften der Antike finden sich Zeugnisse für eine bunte Götterwelt. Vom Bildhauer Praxiteles ist der Satz überliefert: "Von allen meinen Skulpturen sind mir die am liebsten, die Nikias (bedeutender Maler der griechischen Antike) farblich gestaltete." Neueste wissenschaftliche Untersuchungsmethoden ermöglichen mittlerweile originalgetreue Rekonstruktionen der antiken Marmorpolychromie.


Lesen Sie in Folge 7:
> Rom und die Grenzen des Wachstums

                                      ***

Impressum: Der obige Haupttext entstand auf Basis eines Vortrages, den Dr. Walter Zitterbarth im Rahmen der Akademie der Marienberger Seminare gehalten hat. Die Textbearbeitung für den Abdruck besorgten Andrea Mertes und Andreas Pecht. Für den Inhalt verantwortlich: Marienberger Seminare e.V. 

Der 80-minütige Originalvortrag ist als Audio-CD mit bebildertem

Begleitheft zu beziehen bei Marienberger Seminare

e.V., Tel. 02661/6702, email: mail@marienberger-seminare.de.

Weitere Infos: >> www.marienberger-akademie.de

Die Reihe „Wissen – Reise durch die Kultur- und Geistesgeschichte“ ist eine Kooperation zwischen Rhein-Zeitung und Marienberger Seminbare e.V., sie wird gefördert vom Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Jugend und Kultur des Landes Rheinland-Pfalz.


(Erstabdruck 21. Mai 2011)

                                                ***

Bisher erschienene Folgen:

2011-04-02 Prolog/Einführung:
Eine Reise durch die Kultur- und Geistesgeschichte

2011-04-02a Folge 1: Der frühe Mensch zwischen
Natur und Kultur


2011-04-23 Folge 2: Die Menschen werden sesshaft

2011-04-30 Folge 3: Ein etwas anderer Blick auf Familie

2011-05-07 Folge 4: Abschied vom magischen Zeitalter

2011-05-14 Folge 5: Die Wurzeln des Abendlandes


---------------------------------------------------------
Wer oder was ist www.pecht.info?
---------------------------------------------------------

 
Diesen Artikel weiterempfehlen was ist Ihnen dieser Artikel
und www.pecht.info wert?
 
eMail an Autor • eMail to author • contact auteureMail an den Autor
eMail an webmaster • eMail to webmaster • contact webmastereMail an webmaster Seitenanfang • go top • aller en-hautan den Anfang Seite drucken • site print • imprimer siteArtikel drucken