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2012-10-08 Ballettkritik:

"Schwanensee" in Mainz: Neuromantische Lesart von Pascal Touzeau


Liebesglück in der Schattenwelt
 

 
ape. Mainz. Was würde Pascal Touzeau aus „Schwanensee“ machen? Neugierde und Skepsis zugleich rumorten durchs Große Haus des Mainzer Staatstheaters. Dass dessen Tanzkompagnie den Ballettklassiker nach Geist und Stil seiner Entstehungszeit im späten 19. Jahrhundert reproduziert, erwartete wohl niemand. Umso erstaunlicher: Das ballettmainz erzählt zwar eine andere Geschichte als das Original, aber eine atmosphärisch derart romantische und tänzerisch derart klassische Choreografie hat man von seinem Chef hier noch nicht gesehen.
 

Touzeaus „Schwanensee“-Story geht so: Odette liebt Siegfried, den Verlobten ihrer Schwester Odile. Während das einander versprochene Paar mit Familie und Freunden freudig der Hochzeit entgegentanzt, verliert sich die unglücklich Liebende zusehends in Fantastereien. Einerseits also reale Welt, die mit auf Spitze getanzten  Elementen –  trotz kunstvoll modern geschnittener, freizügiger Kostüme (Bühne/Kostüme: Sofia Crociani) –  durchaus höfischen Festcharakter behält. Andererseits Odettes Traumwelt, in der freier Ausdruckstanz vorherrscht und sie die Vereinigung mit dem zum Fabelwesen Schwan mutierten Siegfried findet.

Damit bleibt Mainz bei der Teilung des Originals in Handlungs- und Fantastikakte. Nur dass Letztere die Sphäre des Märchenerzählens verlassen und zur psychologischen Innensicht der Odette werden. Die Tür zu deren gequälter Seele wird schon bei ihrem ersten Auftritt geöffnet: Das Mädchen schmiegt sich an raumhohe Quader, auf die Gilles Papains Video-Projektion übergroße Konterfeis von Siegfried wirft.

Odette ist der Angelpunkt der Abends, der zudem über die bloße Liebesgeschichte hinausweist: Wie Anne Jung sie tanzt, wirkt sie als Außenseiter in der sie umgebenden Mehrheitsgesellschaft. Sie trägt als einzige keine Ballettschuhe; sie bricht das Eleganzprinzip des Spitzentanzes durch das dem Forsythe-Stil entlehnte Verdrehen von Füßen, Gliedmaßen, Körperachsen. Soll sagen: Diese Frau ist anders, fällt aus der Norm, hat ihren eigenen Kopf –  und ihre eigene Lust, die Anne Jung als laszive Störung gegen die „anständigen“ Hoftänze setzt. Allfällige Zurückweisung und Isolierung sind Ursache wie Folge zugleich.

Konsequent wechselt Christian Bauch als Siegfried in Odettes Fantasie-Sequenzen den Tanzstil hin zum frei-assoziativen sinnlichen Ausdruck, „Schwanenhaltungen“ inklusive. Das leidenschaftliche Umschlingen der beiden wird zu den dichtesten und ehrlichsten Momenten des Abends. Geschmackssache ist hingegen eine ausufernde Passage nach dem Prinzip Schleiertanz: Odette reißt das Brautkleid ihrer Schwester an sich und ficht, bis zur schieren Unsichtbarkeit in weißem Tüll versinkend, Verzweiflungskämpfe aus.

Ansonsten jedoch gefällt die abwechslungsreiche Vielzahl kleiner Ensembles und großer Formationen. In den Handlungspartien überwiegen klassische Formen mit verspielten Brechungen. In den Traumteilen tritt zur modernen Intimität zwischen Odette und Siegfried die um etliche Gäste aufgestockte und Wechseltableaus ausformende Kompagnie als Schattengesellschaft im Tutu. Damit zielt Touzeau auf Zitierung des alten „Schwanensee“ wie auf dramatische Beeindruckung durch seinen neuen. Auf der Bühne hat eine riesige güldene Ornamentwand weiße Quader und gewölbte Seitenteile der vorherigen Akte abgelöst. Die Wand wird zur schwebenden Plattform, auf der sich in der Höhe das Traumpaar final vereint, während die Schattenwesen darunter segnendes Spalier tanzen.

Das ist zwar ein anderer „Schwanensee“, dennoch Romantik satt. Wer wollte schließlich gegen ein romantisches Schwergewicht wie Tschaikowskis Ballettmusik antanzen. Zumal, wenn sie in einer Farbigkeit, Brillanz und Intensität realisiert wird, wie jetzt vom Philharmonischen Staatsorchester Mainz unter Florian Csizmadia. Was da aus dem Graben tönt, ist ein Fest für sich.
                                                                                  Andreas Pecht

Infos: >>www.staatstheater-mainz.com


(Erstabdruck/-veröffentlichung außerhalb dieser website
am 8. Oktober 2012)

                                               ***

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