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2008-02-17 Ballettkritik  
Die Schönheit einer
emanzipierten Giselle

Jubel in Wiesbaden für Stephan Thoss' Neudeutung
des Ballettklassikers
 
ape. Wiesbaden. „Wir können doch nicht so tun, als ob die Geschichte eines jungen Mädchens, das an gebrochenem Herzen stirbt, weil sich ihr Angebeter als verlobter Adliger entpuppt, noch glaubwürdig ist.“ So Choreograf Stephan Thoss jetzt im Interview über den Ballettklassiker „Giselle“ von 1841. Weshalb er eine Neudeutung geschaffen hat. Die nennt sich „Giselle M.“, wurde 2007 mit dem Deutschen Theaterpreis „Faust“ ausgezeichnet und nun erstmals an der neuen Wirkungsstätte von Thoss gezeigt: im Wiesbadener Staatstheater. Es wurde eine zurecht umjubelte Premiere.
 
Was ist anders? Diesmal wird Giselle weder wahnsinnig, noch bringt sie sich um. Wir erleben stattdessen den schwierigen Weg einer Frau heraus aus überkommenen Rollenzwängen hin zur Entfaltung eigener Persönlichkeit. Und siehe, was anfangs hübsch anzuschauen war, erhebt sich zu beglückender Strahlkraft: die freie und selbstbewusste Frau ist die interessantere, ja die schönere – auch wenn Männer aus ihrem vorherigen Leben das so nicht sehen mögen.
Thoss erzählt diese Entwicklung nicht einfach. Er macht sie in fortschreitender Veränderung des Tanzausdrucks, der Bewegungsästhetik sichtbar, fühlbar. Giselles Lebenswelt ist zuerst eine der wohl geordneten, geregelten, volkstümlichen Formationen. Der Tanz ist  äußerlich, wird von den geknickten Extremitäten her, statt von der Körpermitte aus definiert.  Das hat Witz und Tempo, aber keine Seele  und keinen Raum für Individualität.

In diese Welt bricht mit Albrecht das Fremde ein. Yuki Mori tanzt vom Köperzentrum her, raumgreifend, anmutig: Bei ihm ist Tanz nicht Konvention, sondern Ausdruck persönlichen  Gefühls. Für Giselle eine Offenbarung. Wunderbar, wie Xanthe Geeves in der Titelrolle diese neue sinnliche Ausdruckswelt erst verstört, wie sie sich dann herantastet, hineinfindet – und sich derart zugleich von ihrer bisherigen Umgebung entfremdet, isoliert.

Von der alten Gesellschaft als Störfaktor ausgestoßen, bald auch von Albrecht verlassen, bricht sie zusammen. Um hernach eine eigene Welt zu erringen. Dort leben Giselle und neue Mitstreiter nun die selbstbestimmte Freiheit des Individualausdrucks im gelösten Schwingen, Schweben, Wiegen, Springen a la Gret Palucca aus. Das Orchester unter Cornelius Heine behauptet mit Adolphe Adams Musik saftige Romantik. Die emanzipierte Giselle nimmt das als Nostalgie, die ihrem gewonnen Selbst keine ungewollte Lebensart mehr auflasten kann. Sinnig, sinnlich, hinreißend.                                                                     Andreas Pecht

(Erstabdruck am 18. Februar 2008)

Kritiken weiterer Thoss-Choreografien sowie anderer "Giselle"-Bearbeitungen in jüngerer Zeit:

2007-10-21 Ballettkritik:
Starker Einstand von Stephan Thoss als
neuer Ballettchef in Wiesbaden


2007-02-23 Ballettkritik:
"Das Mädchen mit den Email-Augen" von Stephan Thoss in Bonn


2006-10-29 Ballettkritik:
Sven Grützmachers zeitgenössische
"Giselle" in Trier


2006-10-21 Ballettkritik:
Amanda Millers kreuzbrave
"Giselle" in Köln

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Staatstheater Wiesbaden, Kritik, "Giselle M. , Choreografie  Stephan Thoss
 
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