Kritiken Theater
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2007-10-21 Ballettkritik:  
Zeitenwende beim Wiesbadener Ballett

Neuer Chefchoreograf Stephan Thoss gibt mit neuer Compagnie umjubelten Einstand: „Weiß wie der Mond“ 
 

ape. Wiesbaden.
Nach reichlich Turbulenzen um Bleiben oder Gehen des langjährigen Ballettchefs Ben van Cauwenbergh in Wiesbaden, trat dessen Nachfolger Stephan Thoss jetzt erstmals mit  eigenen Produktionen vor sein neues Publikum. Hochspannung deshalb am Samstag im Hessischen Staatstheater. Und am Ende Ovationen für eine zeitgemäße Kunst, mit der die Tanzsparte des Hauses sich nach Jahren im  Abseits ins überregionale Geschehen zurückmeldet.
 
Klug gepackt ist Stephan Thoss' dreiteiliger Einstand, der unter dem Gesamttitel „Weiß wie der Mond“ Variationsreichtum demonstriert. Seine  24-köpfige Compagnie vereint bisherige Wiesbadener Tänzer, eigene Weggefährten und einige Zukäufe - darunger mit Linda Ryser auch ein prominentes Mitglied aus der Bonner Truppe des demnächst scheidenden Johann Kresnik. Mit ihnen allen hat Thoss zwei jüngere Choreografien aus seiner Zeit als Ballettdirektor der Staatsoper Hannover einstudiert und eine Uraufführung namens „Musikalisches Opfer“ kreiert. Diese Arbeit nach Werken von Johann Sebastian Bach eröffnet die Premiere  – und setzt für Wiesbaden sofort völlig neue Maßstäbe.

Zwei Elemente geben der  Bühne Struktur: Teilvorhänge, die sich temporär als geometrische Gliederung herabsenken; eine achtköpfige Ballett-Blanc-Formation, die als „Schloss Sanssouci“ Räume, Ebenen, Atmosphären ertanzt. Und dahinter überragt ein winziger Friedrich II. als wild gestikulierender Gipfel eines Gebirges von schwarzem Reifrock die Szenerie.

Zwar inspirierte die historische Begegnung zwischen Musikus Bach senior und König die Choreografie. Sie als Story  im Tanz abbzubilden ist jedoch  Thoss' Sache  nicht. Ihn interessieren die Beziehungen zwischen Mensch und Muse, Genius und Macht,  Vater und Sohn, Mann und Frau. Der Zuseher tut gut, das Stochern nach Historienhandlung rasch aufzugeben: Das lenkt bloß ab von den Seelendimensionen, die hier auf tanztechnisch wie ästhetisch teils enorm hohem Niveau auslotet werden.

Thoss, aus der Palucca-Schule kommend, verbindet zeitgenössischen Ausdruckstanz mit neoklassischem Stil, wie er etwa nebenan von Martin Schläpfer gepflegt wird. Das gibt seinem Bewegungsrepertoire eine sehr eigene Spannkraft zwischen  ballettöser Strenge  und freien Formen. Anna Herrmann und Sandro Westphal etwa nutzen den Spielraum in „Musikalisches Opfer“ für hinreißend konzentrierte Ausdrucksmomente aus der gekrümmten Wirbelsäule und geknickten Gliedmaßen heraus. Yuki Mori und Ina Brütting spüren Bach und seiner Muse eher mit der Eleganz weit gestreckter Körper nach.

Während diese eben erst entstandene Arbeit in der Ausführung noch etwas reifen muss, verströmt der zweite Abendteil souveräne Vollendung. „Visions fugitives“ zu  Prokofjews Opus 22 über nächtliche Fantasien ist ein Wirbel aus federleichten und schmunzeligen Tanzminiaturen. Von einer Art Fee eröffnet, entspinnt sich vor grüner Hecke und schwarzer Ecke ein verspielter Reigen flüchtiger Momente aus menschlichen, allzumenschlichen sowie irrealen Verhaltensweisen und Bildern.

Mit humorigem Augenzwinkern beginnt auch der letzte Abendteil, eine ihrerseits dreigegliederte Choreografie unter dem Titel „No Cha-Cha-Cha“. Die hebt an mit einer reizend-boshaften Persiflage auf lateinamerikanische Standards und deren künstliche Sinnlichkeit.  Sie endet mit einer von allen Konventionen und Affektiertheiten befreiten Tanzekstase in einer sich fortlaufend verdichtenden Großformation.

Dazwischen liegt, zu Arvo Pärts seelenvoller Komposition „Trisagion“, ein tiefernster Teil. Darin werden Menschen im unlösbaren Widerspruch aus Lust auf Alleinsein und Sehnsucht nach Miteinander beobachtet. Anziehung und Abstoßung, versuchte Zärtlichkeit und übermannende Grantigkeit – der Tanz zeigt sie hier in berückender Weise als gleichzeitige Ambivalenz. Die Qualitäten, die Thoss'  Einstand zeigt,  nehmen auch manchen am Cauwenbergh-Stil hängenden Skeptiker ein. Vereinzelte Buh-Rufe  versinken im Meer aus Begeisterung oder Anerkennung.

Für rheinland-pfälzische Ballettfreunde rückt Rhein-Main nun noch stärker in den Fokus. Denn bis auf Weiteres spielt die große Tanzmusik  in Mainz mit Schläpfer und jetzt zudem in Wiesbaden mit  Stephan Thoss.                                                     Andreas Pecht


(Erstabdruck 22. Oktober 07)
 
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