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2008-06-15 Ballettkritik:  
An den Tiefen des
"Professor Unrat" vorbei

Stephan Thoss versucht in Wiesbaden, aus Heinrich Manns
Roman-Klassiker ein Handlungsballett zu machen

 
ape. WIESBADEN. Minutenlange Ovationen für die letzte Produktion von Stephan Thoss in seiner ersten Spielzeit am Staatstheater Wiesbaden. In der Tat bestätigte diese Premiere das hohe Niveau der neuen Ballettcompagnie des Hauses und die innovative Kraft des neuen Chefchoreografen. Und doch muss die Frage erlaubt sein: Hat sich Thoss womöglich überhoben mit dem Versuch, nach Heinrich Manns Roman „Professor Unrat“ (1905 erschienen) ein abendfüllendes Handlungsballett zu kreieren?
 
Wie mehrfach in den letzten Jahren die Schauspielsparte in diesem Theater, ebenso etwa in Bonn, Mainz oder Frankfurt, so muss auch die Tanzsparte beantworten: Welchen neuen oder erweiterten Blick auf literarische Lesestoffe bringt deren Adaption für die Bühne? Und: Überschätzt dabei nicht gerade das wortlose Ballett seine Möglichkeiten, fundamental am Worte hängenden Kunstwerken gerecht zu werden? Der Verweis auf die im Fall „Professor Unrat“ filmische Stoffverarbeitung 1930 durch Joseph von Sternberg mit „Der blaue Engel“ kann die Frage nicht entlasten, weil dem Kino das Wort und auch sonst noch ganz andere Möglichkeiten zur Verfügung stehen als dem Tanz.

Beschränkt auf Bewegung, Mimik und Kulissenzauber hat das Ballett Mühe, selbst die hier extrem reduzierte Handlung halbwegs verständlich zu transportieren. Zuseher, die Heinrich Manns Roman kennen, finden bloß diese kleine Geschichte wieder: Pedantischer Lehrer tyrannisiert Oberstufen-Gymnasiasten, vergafft sich in eine Bartänzerin, übernimmt Bar und Tänzerin, führt verhasste Schüler und Bürger auf die Wege des Lasters und rastet schließlich aus, als seine Lola sich ausgerechnet dem Erzfeind unter den Gymnasiasten liebeslüstlich hingibt.

Dies alles spielt mehr als 100 Jahre in der Vergangenheit, sagen die Kostüme von Katharina Meintke und Kaspar Zwimpfers Bühnenbild, das in raffiniertem Fluss zwischen Klassenzimmer, traumatischer Strafkammer und Laster-Bar wechselt. Am Ende aber ist  Schlüssigkeit oder nicht dieser Produktion zu entscheiden auf der ureigenen Ebene des Balletts als pure Ästhetik und/oder unmittelbarer Ausdruck von Gefühlslagen.

Gerade bei Letzterem wird der Wiesbadener „Professor Unrat“ unübersichtlich. Sandro Westphal gibt die Titelrolle mit Ausdruckstanz, der ein quasi endloses Feuerwerk großer bis kleinster Figuren und Bewegungen entfacht. Schon in seinem  Eingangsauftritt erkennen wir einen ambivalenten Menschen, zerrissen zwischen Ordnungsfanatismus und dahinter lauernden Abgründen. Kleinteilige Fülle, Tempo und technische Präzision sind atemberaubend; das gilt für die gesamte Produktion.

Aber leider bleibt es während der folgenden zwei Stunden dabei – weder psychologisch noch tanzstilistisch öffnen sich weitere Dimensionen. Auch das gilt für die gesamte Produktion, die sich deshalb mit den immergleichen tänzerischen Mitteln an der ausgedünnten Handlung und wohlfeilen Bühneneffekten entlang hangelt. Das wirkt dann über etliche Strecken verzettelt, zerfastert und auch sehr äußerlich. Die Musikauswahl verstärkt diesen Eindruck noch: Fabelhaft entfaltet das Hausorchester unter Wolfgang Ott im Graben die gebündelte Hochdramatik bei Witold Lutoslawski, John Adams oder in Alban Bergs „Lulu-Suite“ – der das Bühnengeschehen keinen adäquat konzentrierten Spannungsbogen beigesellt.

Hingucker ist der große Liebeslusttanz von Lola und Gymnasiast Lohmann. Da scheint zum Schluss aus dem sportiven Palucca-Stil, den Thoss nach Wiesbaden mitgebracht hat, bei Anna Herrmann und Yuki Mori ein Sehnen, Begehren, Locken, Schmiegen auf, von dessen anrührenden wie glaubwürdiger Tiefendimension man dem Abend viel mehr gewünscht hätte.                Andreas Pecht

Info: www.stattstheater-wiesbaden.de  

(Erstabdruck 16. Juni 2008)


Besprechungen früherer Choreografien von Stephan Thoss:

2008-02-17 Ballettkritik:
"Giselle M." von Stephan Thoss in
Wiesbaden. Neudeutung des Ballettklassikers


2007-10-21 Ballettkritik:
Starker Einstand von Stephan Thoss als
neuer Ballettchef in Wiesbaden


2007-02-23 Ballettkritik:
"Das Mädchen mit den Email-Augen" von Stephan Thoss in Bonn



Staatstheater Wiesbaden, Kritik, Ballett "Professor Unrat", Choreografie Stephan Thoss

 
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