Kritiken Theater | |||
![]() |
![]() |
![]() |
![]() |
2007-09-17 Schauspielkritik | |
"Nathan der Weise" weiter brandaktuell Einige modische Knalleffekte können Lessings Klassiker der Aufklärung im Wiesbadener Staatstheater nichts anhaben |
|
ape. Wiesbaden. Am
Ende gab es kurzen, aber sehr freundlichen Beifall für die
Schauspieler, vorneweg für Hanns Jörg Krumpholz als
„Nathan der Weise“. Regisseur Tilman Gersch musste jedoch
auch eine Menge Buh-Rufe über sich ergehen lassen. Das ist
das Risiko, wenn man einen Schauspiel-Klassiker, statt wie gewohnt im
Kleinen, im ehrwürdigen Großen Haus des Wiesbadener
Staatstheaters spielt – und das überwiegend ältere
Premierenpublikum mit diversen Action-Einlagen aus dem jungen Theater
konfrontiert. |
|
Der
letzte Anstoß zum Missfallen kam wohl vom Schluss: Christen,
Juden Moslems ziehen sich bis auf die Unterwäsche aus und feiern
zum „Imagine“ von John Lennon ein menschheitsverbindendes
Happening. Dass alle Feinripp tragen und deshalb von einer Orgie
nicht die Rede sein kann, trug zu Besänftigung der Buh-Rufer
kaum bei. Im Ernst kann diese Szene indes weder als
Unanständigkeit noch kompletter Unfug abgeurteilt werden.
Allerdings wäre zu fragen, ob Lessings weiter brandaktuelles
Stück von 1779 eines solch heftigen Winkes mit dem
Deutungs-Zaunpfahl bedarf. Eher nicht – auch wenn man bisweilen
über Zeitgenossen verzweifeln könnte, denen noch im 21.
Jahrhundert Religion, vor allem die eigene, mehr zählt als
Menschlichkeit. Von besagter und einigen anderen juvenilen Mutwilligkeiten abgesehen, folgt die Wiesbadener Inszenierung ziemlich getreu der Lesart, die „Nathan der Weise“ in den letzten Jahren an vielen Theatern erfahren hat: Die Handlung spielt im israelisch-arabischen Kriegsgebiet unserer Tage. Betonene Panzersperren und Riesenmauern beherrschen auch Ariane Salzbrunns Kulisse. Nathans Ziehtochter Recha und die Sultansschwester Sittah fegen in Springerstiefeln, Kampfanzug-Hose und T-Shirt als Nahost-Girlies über die Bühne. Und dass der Sultan dem iranischen Regierungschef Ahmadinedschad wie aus dem Gesicht geschnitten ausschaut, und der Patriarch unter der Soutane Jeans und Karohemd von George W. Bush trägt, ist gewiss kein Zufall. Das Wichtige dieses Abends passiert allerdings jenseits der mal kalauernden, mal netten Aktualisierungsbemühungen. Passiert während jener langen Strecken, in denen Gersch Lessings Text laufen lässt, und die Schauspieler ihn ernst nehmen. Dann kann Krumpholz seinen Nathan als gescheiten wie empfindlichen Mann ausspielen, der eine dezente Spur von etwas hat, das mancher Nathan-Figur anderwärts fehlte: Humor. Dann können Alexandra Finder und Jörg Zirnstein den Figuren Recha und Templer geben, was sie brauchen: Ungestüm und gleichzeitige Unsicherheit der Jugend. Dann kann dies Stück jene Kraft entfalten, derer die Gegenwart wieder so sehr bedarf: die Kraft der Aufklärung. So ist der Wiesbadener „Nathan“ doch wertvoller, als einige Knalleffekte befürchten lassen. Andreas Pecht (Erstabdruck am 18.09.2007) --------------------------------------------------------- Weitere Artikel zum Thema Lessing/Nathan/Aufklärung: ∇ 2005-04-11: Theater Imrgard Langes Sicht auf Lessings "Nathan" in Mainz: Nathan der Ängstliche ∇ 2005-06-27: Theater Pavel Fiebers Inszenierung von „Nathan der Weise“ bei Mayener Burgfestspielen ∇ 2005-01-03: Essay: Das Erbe der Aufklärung in Gefahr - Plädoyer für den religionsneutralen Bürgerstaat |
Diesen Artikel weiterempfehlen | ![]() ![]() |
was ist Ihnen dieser Artikel und www.pecht.info wert? |
|
![]() |
![]() |
![]() |
![]() |