Kritiken Theater | |||
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2009-05-05a Ballettkritik: | |
Alain Platels „pitié! Erbarme dich!“ nach Bachs Matthäuspassion in Wiesbaden umjubelt Die leidende Kreatur als Stoff fürs Ballett |
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ape. Wiesbaden. Manchmal
erstaunen am Theater Publikumsreaktionen mindesten so sehr wie
ungewöhnliches Bühnengeschehen. Bei den Maifestspielen in Wiesbaden
trieb jetzt das Gastspiel von Alain Platels Kompagnie Les
Balletts C. de la B. einige Besucher während der Vorstellung vor die
Tür. Damit war zu rechnen, weil an der avantgardistischen
Tanzproduktion „pitié! Erbarme dich“ der Belgier rundweg alles höchst
befremdlich ist. Umso überraschender, dass das Gros des durchaus
gesetzten Publikums den zweistündigen Abend schlussendlich mit
Ovationen feierte. Ein deutlicher Unterschied zur verhaltenen Aufnahme
des Werkes 2008 bei der Uraufführung im Rahmen der RuhrTriennale . |
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Choreograf
Platel hat mit seinem musikalischen Partner Fabrizio Cassol die
gewaltige Matthäuspassion von Johann Sebastian Bach sowie die
Leidensgeschichte Christi als Inspirationsquell und Rohstoff benutzt.
Das Ergebnis ihrer Bearbeitung dieser beiden Kernelemente
abendländischer Kultur ist allerdings derart, dass „pitié“
durchaus auch als Sakrileg im doppelten Sinne hätte missverstanden
werden können: als Affront gegen den großen Bach und als schier
blasphemischer Angriff auf die religiösen Gefühle traditionellen
Christentums. Beides jedoch liegt dem Werk tatsächlich fern. „Und das Wort ist Fleisch geworden“, mit diesem biblischen Satz hebt auf der Bühne ein Geschehen an, in dessen Zentrum jede Menge Leid über wenige Augenblicke des Trostes oder der Lust obsiegt. Was sie sagen, gerät diesen Menschen zum Stammeln. Und ihr Fleisch erweist sich als ungewisser Aufenthaltsort: entgleitende Gesichtszüge, zitternde Köpfe, zappelnde Gliedmaßen. Leiber, die beim Krallen in die Haut schmerzen, aber doch keinen Halt bieten. Paare, die sich schneller verlieren, als sie sich finden. Formationen so flüchtig wie das Gemeinschaftsgefühl in dieser Welt. „Erbarme dich!“ – das große Gebet aus der Matthäuspassion durchdringt Platels Arbeit als zentrales Motiv des Flehens gequälter, sich quälender Kreatur. Folgerichtig dominieren hier nicht Ebenmaß, Schönheit und Eleganz des Balletts. Stattdessen verwenden die zehn Tänzer ihre hochmögenden Fertigkeiten vom Ausdruckstanz bis zum zirzensisch-sportiven Streetdance auf die Darstellung von Zerrissenheit, Versehrtheit, innerer Qual: Die Krone der Schöpfung windet sich in erbarmungswürdiger Hässlichkeit. Szenisch aktiv sind neben den Tänzern drei ausgezeichnete Sänger: zwei Sopranistinnen und ein Countertenor. Auf einer „festen Burg“ aus Holz sitzt in Hintergrund eine Kombo, die Momente der Bach’schen Musik mal zu schlichter Medidationsmelodik ausdünnt, mal mit Klangelementen aus vielerlei Kulturen anreichert. Das ist gewiss kleiner als Bach, aber nicht minder ernst gemeint. „pitié“ erzählt die Passionsgeschichte weder nach noch neu. Erst recht trampelt das Stück nicht respektlos darauf herum. Es erzählt vielmehr vom Geworfensein des Menschgeschlechtes – nimmt dabei Bezug auf den Leidensweg des Menschensohnes. Die ureigene Intensität mit der die Belgier das machen, motiviert beim religiösen wie beim nichtreligiösen Zuseher Erschütterung, Mitleiden, Erbarmen – sofern er Kunst nicht bloß als Schönen und Erhabenen verpflichtetes Genussmittel begreift. Andreas Pecht (Erstabdruck am 6. Mai 2009) |
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