Kolumne Quergedanken regional | |||
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2008-10-27 Kolumne/Glosse: | |
BLÖDSINN! |
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ape.
Es wird einem ja ganz schwindelig von so viel grundstürzenden
Weltveränderungen im Eilzugtempo. Die CSU vom Jahrhundertthron gekippt.
Die letzte der alten Supermächte (USA) mit der Schnauze im Dreck. Ihr
präsidialer Bush der unbeliebteste Typ weltweit. Die globale
Wirtschaftselite vermisst zwischen Frühstück und Feierabend plötzlich
ein Portemonnaie mit 3000 Milliarden Dollar drin. Am Spielautomaten
versemmelt oder Kolleginnen von Brigittche (1) selig ins Höschen
gesteckt – wie die TuS-Kicker vor Rostock ihren Verstand? Nichts
Genaues weiß keiner. Der siegreiche Weltkapitalismus jedenfalls
plötzlich auf dem letzten Loch pfeifend. Seine Helden geteert und
gefedert auf den multimedialen Straßen spießrutenlaufend. Seine
schreibenden, dozierenden, singenden Parteigänger von eben aufheulend
wie betrogene Liebhaber, und ebenso rachsüchtig. „Neoliberal“ wird zum
Unwort des Jahres, „freier Markt“ zum Synonym für Pestilenz.
Privatisierung klingt wie Abrisskommando, Börsengang wie Mehdorn,
Finanzmanagement nach Kannnitverstahn. Omas Matratze und Opas
Genossenschaftsbüchse kommen als Geldanlage auch für Gutbetuchte in
Mode. Die Banker sind schuld, der Papst verhängt den Bann über sie. Die
Kanzlerin probiert eine neue Rolle und befiehlt die Herren des Geldes
zum Rapport. Der Finanzminister macht’s nach und versohlt den
Ackermännern den Hintern. Der Staat rettet die Welt vor der
Geldmarkt-Anarchie. Die politischen Aufseher über die Staatsbanken
entkommen indes knapp der Guillotine, weil: Aus Blödheit mitzocken,
duldend wegsehen oder von Tuten und Blasen keine Ahnung haben fällt bei
Staatspersonal unter Unzurechnungsfähigkeit. So einfach lassen wir die
privaten Wirtschaftsführer nicht aus. Deutsche Massenblätter schreien
nach Käfigen für den Raubtierkapitalismus. Die Chefsprecher von
heute-journal wie Tagesthemen rufen Lenin zu Hilfe: „Vertrauen ist gut,
Kontrolle besser“. Bischof Marx donnert von der Kanzel wider
Kapitalistengier. Sein historischer Namensvetter aus Trier ist dieser
Tage der meistzitierte Klassiker, dessen „Kapital“ wurde seit Jahren
nicht mehr so gut verkauft wie heute. Deutschland hat seinen
Verteidigungskrieg am Hindukusch verloren, unsere Soldaten kämpfen nur
noch ums nackte Überleben. Der greise Marcel Reich-Ranicki haut der
versammelten Fernseh-Mischpoke ein giftiges „Blödsinn!“ um die Ohren.
Elke Heidenreich legt „hirnlose Scheiße“ aus „verlotterten Sendern“
nach. Worauf Freund Walter und ich jubelnd anstoßen: Wunderbar, auf
ewig Dank, beiden! PFFFfffffff. Wenn Sie diese Zeilen lesen, liegt das alles schon ein paar Tage zurück. So schnell, wie die Welt sich momentan dreht, sieht sie bei Erscheinen des Heftes (2) vielleicht schon wieder ganz anders aus. Womöglich hat die Bundesregierung inzwischen alle Banken verstaatlicht und im Gedenken an einstige SPD-Forderungen sowie an das erste CDU-Nachkriegsprogramm die großen Schlüsselindustrien gleich mit. Mag sein, die Berliner Koalition hat in Rückbesinnung auf den territorialen Verteidigungsauftrag des Grundgesetzes die Bundeswehr aus allen Auslandseinsätzen zurückbeordert. Könnte sogar angehen, dass zwei, drei Herren, die in Rheinland-Pfalz Ministerpräsident waren, zwischenzeitlich ihre Vorreiterrolle beim Ermöglichen der hemmungslosen Ausbreitung des Privatfernsehens bedauern. Am Ende ist keineswegs auszuschließen, dass nunmehr auch der letzte Mitbürger begriffen hat: Geld arbeitet nicht, es sind allein Menschen, die arbeiten. Wo es scheint, als vermehre sich Geld von selbst, liegt in Wahrheit vor, was Marx Enteignung der Produzenten und Brecht Diebstahl nannte: Zins und Profit, die oben abgeschöpft werden, sind unten erarbeitet worden. Falls nicht, wird nur mit heißer Luft gehandelt. Was also ist Finanzkapitalismus? Mal Hehlerei, mal der reine Blödsinn. Meist beides zugleich. Andreas Pecht --------------------------------------------------------- (1) Brigittche hieß eine über Jahrzehnte allseits bekannet und vielfach beliebte Altstadt-Hure in Koblenz. Dieses "Original" ist heuer im Sommer gestorben. (2) "Heft" meint die mittelrheinische Monatszeitschrift "Kulturinfo", die jeweils zum Monatswechsel erscheint und stets auf Seite 2 meine Kolumne "Quergedanken" enthält. Zwischen Redaktionsschluss und Erscheinen des Heftes liegen in der Regel knapp zwei Wochen. (Erstabdruck Woche 44 im Okt./Nov. 2008) |
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