Kritiken Theater | |||
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2006-02-06 Schauspiel: | |
Irgendwo
zwischen www-Schein und trauriger Wirklichkeit Sebastian Hirn inszenierte in Koblenz Lucy Prebbles Stück "Das Sugar-Syndrom" |
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ape. Koblenz.
Bulimie, Pädophilie, Alkoholismus, kaputte Familie,
Liebesentzug,
Liebesunfähigkeit, Sexwahn, Flucht in die
www-Ersatzwelt,
… Eine junge Britin hat darüber
jüngst ein
Theaterstück geschrieben. „Das
Sugar-Syndrom“ wurde
2003 uraufgeführt, ist jetzt in den Kammerspielen des
Stadttheaters Koblenz zu sehen. Der 90-minütige Abend verteilt
all
diese Problemfelder auf vier Personen, die in unterschiedlicher Weise
miteinander zu tun bekommen. Das ist eine Menge schwieriger Stoff, den
Lucy Prebble auch noch über zwei verschiedene Sprachebenen zu
bearbeiten versucht: in realer Alltagssprache und im Verkehrs-Ton des
www-chatrooms. |
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Nicht,
dass es nicht geben könnte, was der 17-jährigen
mager- und
fresssüchtigen Dani im Stück da widerfährt.
Aber mit den
vielschichtigen Implikationen ihres überfrachteten
Fallbeispiels
hat sich die 22-jährige Nachwuchsdramatikerin Prebble doch
etwas
überhoben. Es ist Sebastian Hirn bei seinem Koblenzer
Regiedebüt zu danken, dass „Sugar-Syndrom“
gerade noch
die Kurve weg vom sozialpathologischen Lehrkonstrukt kriegt. Mit feinem
Gespür führt er seine vier Schauspieler immer wieder
in sehr
dichte Konfrontationen. Wobei die individuellen Begegnungsmomente
realistisch ausgespielt werden, während die Gesamtszenerie
völlig denaturalisiert bleibt: ein dreiseitig hermetisch
geschlossener Bühnenraum; an der Rampe aufgereiht drei Laptops
und
ein Fernseher als jeweilige Basisstation für die Protagonisten. Dort chatten sie miteinander. Will sagen: Dani (17, Bulimistin aus kaputtem Elternhaus, schulflüchtig) plaudert schriftlich via Internet mit Lewis (22, Telefonverkäufer, der Musikredakteur werden will). Dani plaudert im Netz auch mit Tim (38, vorbestrafter pädophiler Altphilologe, der VHS-Backkurse gibt), lässt ihn glauben, sie sei ein 11-jähriger Knabe. Die wechselseitigen Gaukeleien und Selbsterhöhungen zerstieben, sobald der Netzanonymität wirkliche Begegnungen folgen. Aus den Sexfantasmen zwischen Dani und Lewis wird das verkorkste Gefummel verstörter Jugendlicher unter gigantischem Erwartungsdruck. Aus dem Risikospiel zwischen Dani und Tim wird eine tröstende, aber ständig gefährdete Freundschaft zwischen Süchtigen. Prebbles Stück verweigert Polarisierungen nach gut und böse. Es erlaubt Mitleid mit vier Menschen, deren Lebensbahnen von Sackgasse zu Sackgasse führen. Da ist auch Hoffnung. Aber so wie die Rollen trefflich gespielt werden, bleibt sie theoretisch. Der Lewis von Christian Volkmann macht nicht den Eindruck, als könne seine Jugendlichkeit je in etwas anderes einmünden als in Besitzanspruch aufs Weibchen und Hass auf jede Abweichung von der Norm. Tatjana Hölbing lastet ihrer Mutterrolle einen so fortgeschrittenen Grad ältlicher Auszehrung auf, dass eine irgendwie geartete Landung auf zwei Beinen ausgeschlossen scheint. Frank Büssings Tim ist eine kluge, sensible Figur, die eben deshalb weiß, dass sie letztlich von der abgründigen Wucht der pädophilen Anlage zerstört werden wird. Und mittendrin steht, nein strampelt und kämpft Judith Richters Dani: Sie spiegelt das Elend der anderen, ist ihre Hoffnung und zugleich ihr Untergang - weil sie wie Johanna bei Schiller und bei Brecht Befreiung nicht bringt, sondern verlangt. |
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