„Weltenwanderer” zwischen Klassik und Moderne

Hochkarätiger Saisonstart beim Hessischen Staatsballett

ape. Wiesbaden. Der Befund wird nun unvermeidlich: Das 2014 gemeinsam von den Staatstheatern Wiesbaden und Darmstadt gegründete Hessische Staatsballett ist derzeit die tänzerisch beste Compagnie im weiten Umfeld. Der Abstand zu den Mainzer Kollegen ist nicht groß, aber unverkennbar. Man muss schon zum Stuttgarter Ballett oder zu Martin Schläpfers Truppe nach Düsseldorf fahren, um auf noch Besseres zu treffen. Dies unterstrichen die Hessen jetzt in Wiesbaden mit dem ersten Ballettabend der neuen Spielzeit.

Unter den Titel „Weltenwanderer” sind drei Arbeiten von drei Gastchoreografen gepackt, allesamt  auf der Zunge zergehende Pralinen der  Tanzkunst. Gemeinsam ist ihnen, dass sie sich weder auf Handlungsballett kaprizieren, noch mit Verbildlichung tatsächlich oder vermeintlich tief schürfender Philosophiererei abmühen. Alle drei Choreografien setzen auf eine Fülle miteinander verbundener Miniaturen, deren Gegenstand der Tanz selbst und die Begegnung von Menschen im Tanz ist.

Das Faszinosum und die Hochkarätigkeit der Umsetzung rühren von unglaublich dynamischen, dichten, ansatzlosen, deshalb buchstäblich strömenden und auf den Punkt präzisen Figurenfolgen. Auch in der kleinsten Bewegung stecken Energie, Dynamik, Ausdruck und Seele – egal wie schnell das über die weite Bühne wirbelt oder wie langsam es Raum und Gegenüber ertastet. Noch die komplexesten Formationen wirken unangestrengt, noch die schwierigsten Solomomente sind von scheinbar selbstverständlicher Leichtigkeit.

Auf solch starker Basis handwerklichen Könnens lässt sich künstlerisch wunderbar arbeiten. Itzik Galili tut das mit seiner Choreografie „A Walk Above”, die zu Musik von Händel und Mozart bis Satie und Arvo Pärt Elemente seiner älteren Arbeiten zu einem Erinnerungstück verwebt. Anfangs  tanzt ein Mann (Tatsuki Takada) einsam sinnend durch ein akurat ausgerichtetes Blumenmeer, trifft dann auf eine Frau (Ezra Houben), der er einen Strauß pflückt. Am Ende stürzt ein wildwüchsiger Schwarm Blumen vom Bühnenhimmel; nun ist es die Frau, die sinnend umherzieht. Zwischen beiden Szenen Leben; Tänzerleben, Menschenleben in aller Herrlichkeit wie Zerbrechlichkeit.

Es folgt „SSSS...”, ein Stück von Edward Clug. Im Hintergrund ein Flügel, auf dem Lynn Kao jetzt Nocturnes von Chopin spielt, während sie bei den beiden anderen Teilen das Staatsorchester des Hauses dirigiert. Vor dem Flügel eine mehrreihige Batterie Klavierhocker, in der sich die Tänzer niedergelassen haben. Schiere Probenatmosphäre: Mal tritt dieser oder jene vor, trifft auf jenen oder diese, um klassische Ballettelemente zu üben. Man konkurriert, kappelt sich, flirtet oder piesackt einander – was ständiges Entgleiten, Zusammenbrechen, Mutieren des überkommenen Bewegungsrepertoires zur Folge hat. Und offenen Mundes bestaunen wir ein Feuerwerk der in quirligem Fluß und humorig auseinander herauswachsenden Bewegungen, Figuren, Bilder unterschiedlichster Stile.

Den Abend beschließt „Suite Suite Suite” von Marco Goecke, jüngst zum Choreografen des Jahres gewählt. Musikgrundlage ist bei ihm die Orchestersuite Nr. 4 von Johann Sebastian Bach. Und tatsächlich greift der Tanz hier immer wieder auf seine eigene Geschicht in der Bach-Zeit zurück, auf Hofgesellschaften, die sich mit geziertem und geziemendem Posieren in Bourree, Menuett, Gavotte ergingen. Die historischen Tanzvorbilder sind in Wiesbaden gerade noch erkennbar, werden aber sogleich auf die Schippe genommen, zerpflückt, transformiert – auf immer neue Ebenen gegenwärtiger Ballettvirtuosität gehoben.
               
Andreas Pecht

 

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