„Nathan der Weise” am Staatstheater Mainz ist brennend aktuell

Das Menschliche hat Vorrang vor jeder Religion

ape. Mainz. Es ist eine Eigenart von Lessings „Nathan der Weise”: Immer wenn draußen in der Welt wieder Streit auflodert, welches die beste der Religionen sei, gewinnt dieses anno 1778 entstandene Theaterstück ganz von alleine und ganz aus sich selbst heraus brennende Aktualität. Das war zuletzt so beim Kruzifix-Disput, beim Kopftuch-Streit, bei der Leitkultur-Debatte. Das ist jetzt umso mehr der Fall, da Rechthaberei hinsichtlich des einzig wahren Gottes unter den Göttern das uralte Monstrum des Religionskrieges wiedererweckt. Am Staatstheater Mainz hat nun K.D. Schmidt den Klassiker ohne  aktualisierende Hinzufügung zeitlos inszeniert – und ihm so die aufklärerische Ursprungskraft gelassen, den Vorrang des Menschlichen vor jedweder Religion einzufordern.

Nathan wird hier, entgegen oft gesehener Praxis, nicht als der bedeutende, superkluge, reiche jüdische Handelsmagnat vorgestellt. In Mainz treten all diese Eigenschaften zurück hinter die nervöse Gewitzheit eines eher unscheinbaren Mannes. Murat Yeginer gibt eine starke Titelpartie, weil er sie klein anlegt; weil er ihre Weisheit aus dem Wechselspiel leisen Humors und gleichzeitiger Ängstlichkeit gegenüber den Fallstricken im religiös umkämpften Jerusalem der Kreuzritterzeit herleitet.

Dieser Nathan ist schon bei Lessing in erster Linie Mensch, weiß um die Zufälligkeit seines jüdischen Herkommens. Und was der päpstliche Patriarch von Jerusalem nachher mit dem inquisitorischen Spruch „der Jude muss brennen!” aburteilt, empfindet Nathan als schicksalhaften Fingerzeig: Die Möglichkeit ein Christen-Baby vor dem Tode zu retten und dieses Glück seines Herzens ohn' jedwede religiöse Beeinflussung aufzuziehen.

So sind denn die schönsten Szenen dieses gut zweieinhalbstündigen Abends jene, in denen der klein gewachsene Nathan und die große, gertenschlanke, quirlige Recha von Lilith Häßle ihre launige Vater-Tochter-Zuneigung entfalten. Die bleibt zärtlich, von beiden unaufdringlich und fein gespielt, auch in Momenten des Schmollens oder der aufschäumenden Meinungsverschiedenheit. Was sich vom Leben drumherum nicht sagen lässt, denn des übrigen Personals stampft – abgesehen von der bei Leoni Schulz trefflich bedächtigen Sultansschwester Sittah – fortwährend in laut explodierendem Zornes-Pathos herum.

Rüdiger Hauffes Tempelritter tobt allweil: Erst gegen das „Judenmädchen”, das er vor dem Feuer rettete; dann gegen Nathan, der ihn nicht sogleich zum Schwiegersohn segnen möchte; dann gegen den Mönch (Clemens Dönicke), gegen den Patriarchen (Armin Dillenberger), gegen den Sultan, gegen sich selbst. Ähnlich die Magd Daja,  die bei Anna Steffens ihr von Lessing eingeschriebenes humoriges Potenzial zugunsten eines verbiestert-herorischen Sendungsgestus aufgibt. Völlig verschenkt hat die Regie die schillernde Figur des Bettelderwisch' Al-Hafi (Johannes Schmidt). Martin Herrmanns Saladin mag man noch abnehmen, dass er statt einer herrschaftlichen eine cholerische Ader hat. Doch interessant wird die Sultansfigur in dieser Inszenierung erst mit ihrem Sinnen über die von Nathan erzählte Ring-Parabel – mit der die wechselseitigen Vormachtansprüche der Religionen ins Reich unmenschlicher Absurdität verwiesen werden.

So leidet die im Großen und in ihrem personalen Kern überzeugende Einrichtung von K.D. Schmidt unter eindimensionalem Deklamationsspiel im Umfeld. Oder sollte sich darin - wenig wahrscheinlich - eine geplante Beziehung zum Bühnenbild (Schmidt/Christoph Hill) ausdrücken? Das besteht auf der ansonsten leeren Bühne einzig aus einem Bodenbelag von Plastersteinen. Die sind in der Mitte jenes Jerusalems zur sauberen Fläche gesetzt, auf der sich zum Stückende die verständigen Angehörigen diverser Religionen zur Menschenfamilie vereinen. Nach außen hin aber ist die Fläche aufgebrochen, wird zur stolpersteinigen Wüstenei und symbolisch zur Waffenkammer für die nachgeboren Verblendeten – die einander nicht nur mit Steinen die Köpfe einschlagen.              

Andreas Pecht

 

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