Biotope jugendlicher Kreativität

FSJ-Seminarwochen aus Referentensicht

ape. Raus aus der Einsatzstelle. Koffer packen. Umziehen in Jugendherberge, Seminarhaus, Ferienwohnanlage. Mit vielen „Kollegen/innen” für ein paar Tage auswärts zusammenleben, sich austauschen, arbeiten. Das widerfährt mehrmals im Jahr allen jugendlichen Teilnehmern am „Freiwilligen Sozialen Jahr” (FSJ) in Rheinland-Pfalz. Dann ist jeweils Seminarwoche angesagt.

Man kennt derartige Ausnahmezustände auch aus dem normalen Berufsleben. Dort heißt das „Weiterbildung”. Für die vier Seminarblöcke eines FSJ-Jahres wäre dieser vor allem als berufliche Zusatzqualifikation verstandene Begriff allerdings zu eng. Denn es geht dabei zwar teils auch um Reflexion und Qualifikation im Hinblick auf die Tätigkeit in FSJ-Einsatzstellen wie Ganztagsschulen oder Kulturinstitutionen.

Aber es geht eben bei den Seminarwochen zugleich auch um viel mehr: um Allgemeinbildung praktischer, sozialer, kultureller, quasi-philosophischer Art; um (Wieder-)Entdeckung eigener Kreativpotenziale; um Offenheit für ungewöhnliche Situationen und Tätigkeiten; ums Erproben ungewohnter Formen des Zusammenwirkens unterschiedlichster Individuen; um Verantwortung für den eigenen Beitrag zu einem kollektiven Werk. Es geht nicht zuletzt um die Freiheit und den Mut, sich jenem zweckfreien Spielen hinzugeben, bei dem nach Friedrich Schiller der Mensch erst wirklich Mensch sein kann.

Alte Bildungsideale ganz frisch und modern

Etwas Pathos sei dem Autor erlaubt, der seit Einrichtung des FSJ in Rheinland-Pfalz jedes Jahr für ein oder zwei Wochen seinen Redaktionsschreibtisch verlässt, um als Workshopleiter an solchen Seminaren teilzunehmen – um mit Menschen zu arbeiten, die dem Alter nach seine Kinder, ja bald Enkel sein könnten. Denn gerade weil die Seminarkonzeption fortschrittlich ist, kommen darin im heutigen Schul- und Hochschulbetrieb oft verschüttete Bildungsideale etwa von Rousseau oder Humboldt wieder zur Geltung: Die Bildung des jungen Menschen sei primär als ganzheitliche Menschenbildung anzulegenEtwas Pathos sei dem Autor erlaubt, der seit Einrichtung des FSJ in Rheinland-Pfalz jedes Jahr für ein oder zwei Wochen seinen Redaktionsschreibtisch verlässt, um als Workshopleiter an solchen Seminaren teilzunehmen – um mit Menschen zu arbeiten, die dem Alter nach seine Kinder, ja bald Enkel sein könnten. Denn gerade weil die Seminarkonzeption fortschrittlich ist, kommen darin im heutigen Schul- und Hochschulbetrieb oft verschüttete Bildungsideale etwa von Rousseau oder Humboldt wieder zur Geltung: Die Bildung des jungen Menschen sei primär als ganzheitliche Menschenbildung anzulegen – auf dass er/sie aus lebendiger Erfahrung heraus seine Talente entfalte, sich entwickle gleichermaßen zum freien und schöpferischen wie zum sozial verantwortungsbewussten Individuum.

Exemplarisch für das Wesen der Seminarwochen seien einige Eindrücke von einer Jahresabschlusswoche des FSJ-Ganztagsschule im Ferienlager Hübingen angeführt. In jener Ecke des Westerwaldes stößt man auf eine idyllisch im Grünen gelegene Wohnanlage aus Reihenbungalows nebst zentralem Haupthaus. Von FSJlern belegt, verwandelt sich das Gelände in einen freundlich belebten Campus. Was man dort alljährlich aufs Neue sieht und erlebt, entspricht ungefähr der idealischen Vorstellung von der Akademeia des Platon im antiken Athen.

Schöne Dinge tun, die man noch nie getan hat

Auf Terrassen und Wiesen sitzen am ersten Tag locker, aber aufmerksam buntgemischte Gruppen junger Menschen beisammen und besprechen Erfahrungen aus ihrem FSJ. Am Abend machen sie dann, was junge Menschen seit jeher machen, wenn sie in größerer Zahl beisammen sind: ausgelassen feiern. Am nächsten Morgen finden sie sich in ihrem jeweiligen Workshop ein. Den hat sich jeder aus dem Angebot von rund eineinhalb Dutzend verschiedenen Arbeitsfeldern ausgesucht. Dort treffen sie auf einen ihnen meist fremden, anfangs bisweilen auch suspekten Workshopleiter. Mit dem zusammen tun sie nun drei Tage lang Dinge, die manche noch nie getan haben.

Theaterspiel, Tanz, Bandmusik, Chorgesang, Filmemachen, Fotografie, Keramikgestaltung, künstlerische Landschaftsgestaltung, Skulpturenbau mit Schrott und Schweißapparat, Architektur, Modedesign, lyrisches Schreiben, journalistisches Tun... Das Ferienlager Hübingen verwandelt sich in eine quirlige „Künstlerkolonie”. Bei den Workshopleitern/innen handelt es sich überwiegend um freischaffende Künstler und Kunsthandwerker, nicht um Pädagogen. Daraus ergibt sich jedes Jahr aufs Neue in jeder Gruppe die spannende Frage: Gelingt es, allein über die Arbeit an einer bestimmten Sache bei den Jugendlichen Aufmerksamkeit, Engagement, Kreativität, produktives Zusammenwirken zu wecken?

Ideen entwickeln und Machbarkeit erproben

Für viele Teilnehmer/innen ist die Arbeitsweise der Workshopleiter zuerst befremdlich. Wie Künstler nun mal sind, besteht ihr Arbeitsprozess anfangs über weite Strecken aus freier Assoziation, aus freiem Spiel mit Ideen und Materialien. Die Workshopleiterin Tanz bringt eben keine vorgefertigte Choreographie mit, die es dann nur noch einzustudieren gilt. Der Workshopleiter Architektur lässt sich zehn Bündel Dachlatten nebst hunderten Quadratmetern Plastikplane anliefern. Für das, was aus dem Material entstehen kann, hat er keine Blaupause im Gepäck, die bloß nachgebaut werden müsste. Es liegt vielmehr an den Jugendlichen selbst, Ideen zu entwickeln, Entwürfe zu machen und deren Machbarkeit praktisch zu erproben.

Das sind bisweilen schwierige Prozesse. Denn die jungen Leute sind vielfach auf gradlinige und schnelle Zielerreichung vorgegebener Aufgaben programmiert. Mancher FSJler würde am liebsten das fertige Modell eines angestrebten Ergebnisses sehen und einen konkreten Hanlungsplan für die Erreichung desselben in die Hand bekommen. Genau darum aber geht es bei den Seminarwochen nicht. Die Workshopleiter geben Impulse, bündeln Ideen, helfen mit Tips, ermutigen Schüchterne, warnen vor Sackgassen oder stehen bei Krisen mit Rat und Tat zur Seite. Wenn ein Workshop richtig gut läuft, sind die Teilnehmer spätestens am Nachmittag des zweiten Tages Feuer und Flamme für IHRE Arbeit. Und tatsächlich konnten noch jedesmal am Ende bemerkenswerte Ergebnisse vorgestellt werden.

"Und sie verwandeln sich in Kreativbomben"

Mancher Jugendliche entdeckt während dieser Woche an sich ein nie gekanntes kreatives Talent  oder findet Ausdrucksformen für vielleicht lange im Innern verschlossene Gefühle. Und jedes Jahr wieder gelangen die Workshopleiter schließlich zu der Formel: „Man gebe diesen jungen Menschen nur Material, Freiraum, kleine Anregungen, ein bisschen Hilfestellung – und sie verwandeln sich in Kreativbomben.” Das berühmte Edikt von Joseph Beuys, wonach jeder Mensch ein Künstler sei, wird hier für ein paar Tage gelebte Realität. Dass die FSJler diese Erfahrung am Übergang zum Erwachsenen-Dasein machen können, ist ein hoher humanistischer Wert per se.

Andreas Pecht

 

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