Die Offline-Verschwörung

Quergedanken Nr. 114

ape. So. Das WM-Ding ist gelaufen. Herzlichen Glückwunsch nachträglich allen, die am Titelgewinn mitwirkten und teils noch immer im Freundenstatus „Wir sind Weltmeister” schwelgen. Ich gehöre nicht dazu, habe nämlich im Gegensatz zu Millionen Deutschen leider weder mitgekickt noch massiert. (Pech halt: Ehedem hatte es bei mir auch nicht zum Papst gereicht). Dafür viel geguckt, aber erst im Endspiel richtig guten Fußball gesehen. Mancher seither vom „hohen Niveau” der WM schwärmende Zeitgenosse hat wohl ein anderes Turnier erlebt. Für meines waren eher die Halbfinals typisch. Defensives Herumtaktieren bei der öden Partie Argentinien vs. Niederlande. Als mit der anderen Begegnung die deutsche Mannschaft endlich zu schönem Qualitätsfußball auflief, brach der brasilianische Gegner leider sogleich völlig zusammen. Statt Match von Weltklasse gab's Schützenfest: im Ergebnis fulminant, fußballerisch aber bald nicht mehr so arg interessant.

Was machen wir nun mit dem Rest des Sommers? Man könnte den sportiven Hype nutzen, um den eigenen Body ein bisschen in Wallung und Form zu bringen. Zumindest legt das eine Werbung nahe, die schon während der WM mit Bildern von rennenden, paddelnden, strampelnden, gymnastisierenden Schönlingen im Freien, in Mucki-Buden und Wohnzimmern lockte. Haben Sie etwa gleich kapiert, was diese TV-Werbung mit ständig eingeblendeten Smartphones will, die irgendwelche Tabellen zeigen? Spätere Erkenntnis: Da wird nicht für mehr oder minder gesundes Sporteln geworben, sondern für Telefone, die sich mit speziellen Apps in digitale Antreiber für willensschwache Freizeitsportler verwandeln.

Das tät noch fehlen, freiwillig die Netzkonzerne beim Ringen mit dem inneren Schweinehund zuschauen und persönliche Vitaldaten abschöpfen lassen. Sind wir zu blöd, um Kniebeugen, Liegestütze, Klimmzüge selber zu zählen? Sind wir zu abgestumpft, um zu merken, ob das selbst gewählte Jogging-Pensum uns unter- beziehungsweise überfordert? Oder sind wir so lasch und unselbständig geworden, dass uns sportive Betätigung ohne elektronische Vorturner und Einpeitscher unmöglich erscheint? Es kommt noch so weit, dass selbst das Liebesleben dem Kommando einer Optimal-Live-App unterstellt wird: Heute 500 Meter Kraulschwimmen, morgen eine Stunde Flirt sitzend in der Kneipe, übermorgen Geschlechtsakt 15 Minuten Rückenlage. Inklusive Automatik-Weiterleitung aller Abläufe und Ergebnisse an Netzprovider nebst Verwertungsfirmen.

Wer das mag, bitteschön. Freund Walter aber mag gar nicht mehr – die Striptease-Puppe im Digitaltheater spielen. Seine Konsequenz: kein Smartphone, kein Tablet, kein Einkauf im Internet, Bezahlung überall nur in bar, kein Facebook, keine Payback- und Kunden-Cards, Internetnutzung radikal reduziert und beschränkt auf einen mit mehreren Mitbewohnern unter gemeinsamem Passwort betriebenen Kollektivrechner. Sie, liebe Leser/innen, finden das absurd, gar entbehrungsreich? Walter indes lässt ausrichten, er freue sich über gewonnene Lebensqualitäten und darüber, dass sein digitales Profil überwiegend aus Nichts oder für Big Data nutzlosem Müll besteht. Da wäre allerdings zu bedenken, dass die große Koalition aus geheimdienstlichen und wirtschaftlichen Datenkraken ihn wegen solcher „Unsichtbarkeit” für ein besonders gefährliches Subjekt halten könnte. Zumal er nicht allein ist: die Offline-Verschwörung greift um sich.

 

(Erstabdruck/-veröffentlichung außerhalb dieser website 30./31. Woche im Juli/August 2014)

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