Flasche halb voll oder halb leer?

Quergedanken Nr. 148

ape. „Je älter umso laxer. Du bist weich geworden in der Birne!”, schimpft Walter. Obwohl seit Ewigkeit beste Freunde, geraten wir uns jüngst immer wieder heftig in die Haare. Worüber? Ach, es geht jedesmal nur um die leidige Politik. Nein, gewiss nicht um Parteipolitik im engeren Sinne. Da haben wir uns schon vor Jahrzehnten auf folgendes Verfahren geeinigt: Schauen, was an Problemen ansteht; analysieren und diskutieren, was an Behandlungsvorschlägen auf dem Tisch liegt; wenn überhaupt, dann erst hernach fragen, aus welcher Partei sie kommen. Das ist in der Praxis schwerer zu machen als hier schnell hingeschrieben, weil die meisten Politiker fast an jedes Statement zu irgendeiner Sache vorneweg Parteifähnchen pappen.

Leider verfährt ein Großteil des Publikums ganz ähnlich wie Parteivertreter. Weshalb allenthalben nicht zur Sache gedacht und diskutiert, sondern am liebsten palavert wird nach der Devise: Was aus der einen Parteiecke kommt, kann sowieso nur Käse sein, und Richtiges ausschließlich in der anderen erbrütet werden. Übrigens rührt von diesem Umstand, dass Walter und ich Wahlkämpfe nicht für Hochphasen der Demokratiekultur halten, sondern eher für deren Tiefpunkte. Womit klargestellt sein dürfte, dass wir beide niemandes Parteigänger sind – was die Teilhabe am Politdiskurs oder das Ringen um eine eigene Wahlentscheidung zwar erheblich interessanter macht, aber eben auch sehr viel anstrengender.

Zurück zu des Freundes Anwürfen. Die haben zu tun mit den Ergebnissen der auf die unselige Trump-Wahl gefolgten Wahlen in Westeuropa. Etwa in den Niederlanden, wo Wilders weit hinter den Erwartungen zurückblieb. Oder bei unseren französischen Freunden, wo die Wahlteilnehmer mit Dreiviertel-Mehrheit gegen Le Pen stimmten. Oder in Schleswig-Holstein, wo die Wähler der AfD einen Platz als kleine Randfraktion zugewiesen haben. Ähnlich ihr Abschneiden bei der NRW-Wahl, wo sie ursprünglich angetreten waren, kräftig zweistellig in den Düsseldorfer Landtag einzuziehen. Heraus kam bloß Einstelligkeit.

Walter liest das und schäumt: „Die faschistischen Rattenfänger haben überall zugelegt, du aber tust so, als sei die von ihnen ausgehende Gefahr gar nicht so groß. Hast du sie noch alle?” Jetzt bin ich frustriert, denn ich fühle mich sogar vom besten aller Freunde missverstanden. Doch, doch, die Gefahr ist real, dass allzu viele Zeitgenossen ihren über Jahrzehnte nur im Verborgenen rumorenden bräunlichen Einstellungen zusehends freien Lauf lassen oder andere der rechtsradikalen Bagage auf den Leim gehen. Dennoch, mir scheint das derzeit wichtigste Signal, das die besagten Wahlen ausstrahlten: Die Welt ist nicht völlig verrückt geworden, und die gewaltige Mehrheit der Menschen zumindest in Westeuropa mag von einer Rückwärtsrolle in Richtung borniert nationalautoritäre Lebensweise rein gar nichts wissen. Der noch unlängst – auch und gerade von uns, lieber Walter – befürchtete Durchmarsch der Rechtsradikalen an die Macht, er ist abgesagt.

„Dein Wort in der Völker oder Götter Ohren”, schnauft der Freund skeptisch. Er nimmt einen kräftigen Schluck aus seinem Humpen, streckt mir selbigen dann mit der Frage entgegen: „Ist der nun erfreulicherweise halb voll oder traurigerweise halb leer?” Ach Jung', sei zuversichtlich; uns geht der Trunk nicht aus. – Am Ende des Abends standen wir dann beide auf der Optimistenseite. Und zwar voll.

 

(Erstabdruck/-veröffentlichung außerhalb dieser website 21./22. Woche im Mai 2017)

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