Quergedanken

Quergedanken Nr. 119

ape. „Diese Überschrift geht nicht,” brummt Walter. „Die Leute denken sofort an die gleichnamige Musikgruppe, statt an den Wortsinn.” Och, das macht nix, lieber Freund, ich krieg die Kurve trotzdem. So nämlich: Es heißt, der Name „Einstürzende Neubauten” für die im Frühjahr 1980 gegründete Band von Blixa Bargeld sei inspiriert durch den Einsturz der Berliner Kongresshalle ebenfalls im Frühjahr 1980. Die Legende ist hübsch, aber falsch. Der Bandname existierte bevor das Hallendach des Westberliner „Leuchtturms der Freiheit” einbrach. Für den Crash hätte mancher damals gerne sowjetischen Tieffliegern die Schuld gegeben. Doch Baugutachter erkannten auf „Mängel in der Bauausführung” und „korrosionsbedingte Brüche” als Ursache für den Einsturz des schicken Gebäudes – das zu jenem Zeitpunkt gerade mal 22 Jahre alt war.

Womit wir bei einem Phänomen wären, das ich partout nicht begreife: Trotz ständig neuer, optimierter Baumaterialien sowie innovativer Fertigungs- und Bautechniken wird die Lebenszeit von Bauten und Verkehrsflächen immer kürzer, je jünger sie sind. Beispiel: Die Sanierung der berüchtigten Holperpiste A48 zwischen Koblenz und Trier. Ginge es nach meinem Hinterteil, könnte die eben beendete Arbeit von vorne beginnen. Denn an etlichen Streckenabschnitte eiert man auf der rechten Spur schon wieder durch von LKW ausgefahrene Wellen-Landschaften. Anderes Beispiel: Ich kenne zwei mit Klinkersteinen hübsch gepflasterte Kurzzeit-Parkplätze. Angelegt vor 20 Jahren, mussten beide seither ein Dutzend Mal neu gepflastert werden. Offenbar berechnet irgendwer die Beanspruchung von Untergrund und Pflasterung jedes Mal falsch.

Wär's nicht so traurig, man müsste lachen über die Sache mit den neuen Leitplanken für Autobahnen. Weil die gewohnten Planken aus Metall nach jedem Unfall ausgetauscht werden müssen, setzen Bundesverkehrsspezialisten seit einiger Zeit verstärkt auf Begrenzungen aus Stahlbeton. Die seien robuster, langlebiger, billiger und verursachten weniger Bausstellen. 40 Jahre sollten die Betonplanken laut Fach-Prognose halten. Leider stellt sich jetzt heraus, dass sie nach nichtmal zehn Einsatzjahren zu Bröselei neigen und deshalb wohl zwei bis drei Jahrzehnte vor der Zeit ausgetauscht werden müssen.

Glücklicherweise haben sich die Koblenzer Brücken als nicht ganz so kurzatmig erwiesen. Zwar sind nun fast alle zur Generalsanierung fällig geworden. Doch geht es da überwiegend um Bausubstanz, die immerhin seit den 1970ern Dienst tut. Ausgenommen die Kurt-Schumacher-Brücke über die Mosel: Noch keine 25, aber schon über Plattfüße, Krampfadern, Rücken klagen. Wären die Veteranen unter den deutschen Eisenbahnbrücken auch solche Jammerlappen, die Bahn hätte längst den Betrieb einstellen müssen. So aber sind gerade die Ältesten zähe Hunde: 9000 der 25000 Brücken des Bahnnetzes sind älter als 100 Jahre, stammen noch aus dem 19. Jahrhundert.

Kriegt denn solche Langlebigkeit heute keiner mehr hin? Irgendwas läuft doch da falsch im modernen Bauwesen. Unter den traditionellen Fachwerk- und Bruchsteinhäusern in Westerwald, Eifel, Hunsrück haben die meisten locker 150, viele 300, manche 500, einige 1000 und mehr Jahre auf dem Buckel. Wenn ich mich in Neubaugebieten umsehe, durchs Frankfurter Bankenviertel oder über den Koblenzer Zentralplatz gehe, traue ich keinem der dortigen Gegenwartsbauten zu, jemals ein ähnliches Alter zu erreichen.

(Erstabdruck/-veröffentlichung außerhalb dieser website 52. Woche im Dezember 2014)

Quergedanken Nr. 118

ape. In Lutz Seilers Roman „Kruso” hat mich folgender Satz regelrecht angefallen und nicht mehr losgelassen: „Ich möchte einen Platz auf der Welt, der mich aus allem heraushält.” Es war, als schalte er in der Trübnis meiner jüngsten Stimmungen das Licht dieser Erkenntnis an: Schnauze voll vom ekligen Weltengang – von Wachstumswahn und Wandlung des Menschen zur verblödeten Konsummaschine, von Auszehrung der Freiheit durch Finanzkapital und Bigdata... Erst recht die Schnauze voll von der Verarsche, dies sei „Fortschritt”. Ich möchte einen Platz auf der Welt, der mich aus allem heraushält.

„Nix da, verpissen geltet nicht! Der Herr Querdenker haben bloß den November-Blues”, platzt Freund Walter in die Melancholie und watscht mir einen Satz von Harald Martenstein auf die Backen: „Man sollte sich mit den Starken anlegen, man sollte mit jedem Text, mit vollen Segeln in den Shitstorm hineinsteuern.” Ist doch sinnlos, mein Lieber. Schau Dir bloß den Weihnachstrubel an: Der Kapitalismus hat die Quadratur des Kreises hingekriegt, er hat die Deutschen zum geizigsten Schnäppchenjäger-Volk auf Erden gemacht und lässt sie zugleich so viel Geld wie nie zuvor noch für die deppertsten Konsumgüter verschwenden.

„Ja, ja, ja, der Neoliberalismus frisst Hirne, Herzen, Leiber; manipuliert Wünsche, Lebenspläne, Glücksgefühle; deformiert Mit- und Zwischenmenschlichkeit. Schreib' weiter – denn verloren haben wir erst, wenn keiner mehr merkt, was vor sich geht und niemand mehr öffentlich Anstoß daran nimmt.” So spricht der Freund zornig, und während er spricht hauen meine Finger schon wieder munter in die Tasten. Dann sagt er dies: Abseits des Mainstreams gäbe es inzwischen eine Menge Leute, die mit dem Postwachstumsleben einfach schon mal anfangen. Die nicht länger auf Politik und Wirtschaft warten, weil denen zu allem sowieso nur einfiele, nach noch mehr Wachstum zu schreien. Obwohl doch jeder Vernünftige wisse, dass Umverteilung und Reduktion das Gebot der Stunde sein müssten.

Und Walter erzählt vom Spaß, den es macht, die Konsumeinflüsterer auflaufen zu lassen. Wie? Durch Verhalten nach folgenden Regeln: Die beste Kaufentscheidung ist, nicht zu kaufen. Die nächstbesten Kaufentscheidungen sind, kleiner und weniger kaufen, nur Reparierbares kaufen, primär regional kaufen, öfter gemeinsam kaufen und das Gekaufte gemeinsam nutzen. Nur kaufen, was man nach reiflicher Überlegung tatsächlich braucht und/oder dauerhaft wertschätzt. Andere Gewohnheiten einüben, die Längernutzung von Gütern den Vorzug geben vor Neuanschaffung. Selber machen, woran man Freude hat, es zu machen; etwa Obst/Gemüse ziehen, Socken stricken oder Genossenschaften gründen.

Klingt etwas abstrakt, aber Walter und ich tragen an einem schließlich (feucht)fröhlichen Abend 1000 praktische Ideen zusammen, die zeigen: Jeder kann auf seine Weise – und ohne tausende Euro für neue „Spartechnik” auszugeben – einsteigen in den Ausstieg aus dem Wachstumskarussell. Wird die Welt dadurch besser? Schlechter jedenfalls nicht. Was garantiert besser wird, ist das eigene Lebensgefühl. Denn: Sich weniger vom Lohn für unsinniges Neuzeug abluchsen zu lassen, macht gute Laune, nützt der Umwelt und unseren Nachfahren. Gleich tönt Wehgeschrei aus allen Oberetagen: Würden Millionen so verfahren, das Wachstumsmodell wäre im Eimer. Dazu Walter: „Das ist der Sinn der Sache.” Und jetzt ein Shitstorm der Wachstumsfraktion.

(Erstabdruck/-veröffentlichung außerhalb dieser website 48. Woche im November 2014)

Quergedanken Nr. 117

ape. Kennt irgendwer irgendjemanden bei dem irgendeine Umstellung der Telekommunikations-Technik problemlos ablief? Vertragsänderung, Anbieterwechsel, Anschlussumstellung, Umstieg auf neue Hard-/Software oder Netztechnik...: Ich jedenfalls weiß von keinem, bei dem das so schnuckelig einfach und auf Anhieb funktioniert hätte wie von den Anbietern versprochen. Vielmehr könnte ich auf Basis der Erfahrungsschilderungen allein aus dem nahen Bekanntenkreis ein mehrbändiges Kompendium mit absurdesten aber wahren Geschichten füllen.

Drei aktuelle Beispiele. Da legt sich ein Kollege das neueste Smartphone eines hippen Obstkonzerns zu. Das Ding funktioniert die ersten zwei Wochen meist gar nicht und wenn doch, dann nicht so wie angepriesen. Es bedarf über Tage jeweils stundenlanger Mühen, um mittels peu à peu nachgereichter Updates und mit Hilfe technisch versierter Freunde ein paar Grundfunktionen nutzbar zu machen. Zweiter Fall: Ein in Koblenz wohnender Bekannter will seinen Anschluss beim größten Telefon-/Internet-Anbieter Deutschlands auf die neueste Netztechnik umstellen lassen. „Kein Problem” sagt die nette Dame im Call-Center des Anbieters. Doch obwohl dessen Techniker bald sogar leibhaftig im Hause herumwuseln, muss mein Bekannter nachher einen eigenen Spezialisten engagieren, damit der das versprochene „Kein Problem” so zurechtfriemelt, dass man wieder telefonieren und surfen kann.

Dritter Fall (hier nur die Kurzform eines mehrwöchigen Irrsinns). Junger Mann will von Rheinhessen aus im Haus seines Opas im Odenwald den uralten Analog-Anschluss internettauglich machen lassen. Von der Erstberatung bis zur Terminvereinbarung für den Technikerbesuch hat der Enkel im Call-Center des größten deutschen Telefon-/Internetanbieters bereits drei Stunden mit Warteschleifen-Meditation verbracht, fünf verschiedene Mitarbeiter gesprochen und von jedem gesagt bekommen: „Kein Problem”. Fünf mal hatte er auch ausdrücklich vereinbart, dass die Abwicklung über ihn läuft, damit ja der alte Mann nicht beunruhigt werde. Fünf mal die Antwort: „Selbstverständlich, machen wir”. Ergebnis: Ein sechster Mitarbeiter ruft wen an? Den 91-Jährigen – und versetzt ihn in lebensgefährliche Aufregung mit der Nachricht, dass das mit dem Telefon nicht klappe, weil das bestellte Produkt bei ihm gar nicht schaltbar sei.

Es folgen nun etliche weniger freundliche Kontakte zwischen Enkel und Call-Center – jedesmal wieder 10 bis 40 Minuten in der Warteschleife und jedesmal wieder andere Namenlose an der Strippe, denen erneut der ganze Fall erklärt werden muss. „Dann stornieren wir ihre Bestellung und melden uns, sobald wir ein geeignetes Produkt gefunden haben”, sagt schließlich das Call-Center. „Einverstanden”, sagt der Enkel, „aber stellt dem alten Mann bloß nicht das Telefon ab.” Ergebnis: Der Anbieter storniert die von ihm selbst nicht erfüllbare Bestellung – und legt dem Greis zugleich den Telefonanschluss still. Der wütende Enkel landet daraufhin beim Deeskalations-Team des Konzerns. Dort wird ihm beschieden: „Was wollen sie eigentlich, SIE haben den Auftrag doch storniert.”

Einzelfälle? Ach was, System. Weshalb Freund Walter fordert: „Call-Center verbieten! Dafür die Konzernbagage per Gesetz zum Prinzip des persönlichen Kunden-Sachbearbeiters zwingen, der für die gesamte Auftragsabwicklung verantwortlich ist. Da könnte man zwar auch an einen Deppen geraten, aber man wüsste wenigstens, wer der Depp ist.”

(Erstabdruck/-veröffentlichung außerhalb dieser website 44. Woche im Oktober 2014)

Quergedanken Nr. 116

ape. Na, wie fällt eure Sommerbilanz aus? Freund Walter macht nach wetterstatistischem Rückblick auf die letzten Jahre diesen Vorschlag: „Sommerferien künftig splitten – einen Teil auf Mai/Juni verlegen, einen anderen in den September. Juli/August sind als neue Jahreszeit unter Kühlregenperiode zu verbuchen.” Nach zwei Wochen Pullover-Urlaub im August an der mecklenburgischen Ostseeküste kann ich das nur unterschreiben. Deshalb gilt meine Hochachtung jenen Ostseeliebhabern jeden Alters, die sich selbst durch zugige 15 Grad das Strandvergnügen nicht vermiesen ließen. In den Seebädern füllten Vermummte und Freihäutige in chaotischer Eintracht Strände und Promenaden. Klasse! Wann hat man schon Sommer- und Wintermode auf demselben Laufsteg?

Mir reichte Strand denn auch für Morgen- und Abendspaziergang. Dazwischen kulturhistorische Entdeckungstouren durch Ossi-Land per Automobil. Das aber nur mit guter Karte abseits der Autobahnen – weil im Urlaub eben der Weg das Ziel ist und die Navi-Tante dir bloß die Sinne für Region und Landschaft verkleistert. Wismar, Schwerin, Güstrow und noch eine paar Schönheiten schätzen gelernt. Rostock kannste vergessen. Und was zur Hölle mag Angela Merkel 2007 ihren G8-Gipfelgästen in den Kaffee getan haben, dass die nicht depressiv wurden angesichts der Verfallstristesse im ältesten deutschen Seebad Heiligendamm.

Ansonsten ist dieses Mecklenburg eine schöne Gegend mit etlichen hübschen Städten und Städtchen darin. Die haben allerdings fast alle das gleiche Leiden: unglaublich hässliche Ortsein- und -ausgänge. Da flattern die Fahnen und protzen Plakate zuhauf, als feiere die SED selig wieder Parteitag. Nur ist die Signalpracht diesmal ein Westimport und winkt das Volk auf die immergleichen Parkplätze und in die immergleichen Einkaufshallen der immergleichen Handelsketten Lidl, Netto, Aldi, Rewe und Co. Kurzum: Jeder größere Ort hat sein meist recht neues Gewerbegebiet oder auch zwei bis drei. Und bist du da drin, vergisst du sofort, ob du in Mecklenburg, Sachsen, Rheinland-Pfalz oder Bayern urlaubst.

Denn die Konzernarchitekten haben einfach auf den Osten übertragen, was sie zuvor im Westen eingeübt hatten: Sie kümmern sich einen Dreck um örtliche Architekturtradition oder passende Umgebungseinbindung. Die Authentizität eines Ortes geht ihnen am Allerwertesten vorbei. Sie besatzen die Landschaft mit ihren vermeintlich modernen Blechbüchsen und Kaufbaracken. Diese kennen von der Ostsee bis zu den Alpen nur eine Norm: firmeneigene Corporate Identity, unentwegt schreiend „Kaufen! Kaufen! Kaufen! Bei uns! Bei uns! Bei uns!” Kurzum: Die mecklenburgischen Städte sehen an den Einfalls- und Ausfallsstraßen leider genauso trostlos aus wie die Vorfelder von Koblenz, Neuwied, Lahnstein oder Montabaur.

Um also in der Fremde Anderes als daheim kennenzulernen, muss man hinein in die Altstädte. Denn einzig in ihrer historischen Bausubstanz behaupten die Orte noch etwas individuelle Unverwechselbarkeit (sofern man davon absieht, dass auch die innerstädtischen Fußgängerzonen von den allüberall gleichen Filialistenketten dominiert werden). Sage noch mal einer, Kapitalismus zeichne sich durch Vielfalt aus. So viel banale Gleichmacherei wie jetzt gab es nie – hüben nicht, drüben auch nicht. Worauf Walter singt: „Der Profit, der Profit, der hat immer recht ...” (neue Variation der alten SED-Hymne „Die Partei hat immer recht”).

(Erstabdruck/-veröffentlichung außerhalb dieser website 39. Woche im September 2014)

Quergedanken Nr. 115

ape. Über eines der wichtigsten Dinge des Lebens haben wir hier noch nie ausführlich gesprochen: das Essen. Die Post-Ferien-Tage scheinen passend, einmal dieser Kulturtechnik näher zu treten. Denn im von alltäglicher Hetz' befreiten Urlaub hat mancher Zeitgenosse hoffentlich bemerkt, dass Essen mehr sein kann als Magenfüllerei. Keine Bange, es liegt mir fern, nun auch noch das modische Loblied zu singen auf Slow-Food, auf Erleuchtung durch eigene Kochfreuden, Beglückung durch besternte Spitzenkulinarik oder Zufriedenheit dank Rückgriff auf Omas Küche.

Zwar esse ich gern gut und davon bisweilen viel, aber die meisten der unzähligen Trends auf dem aktuellen Markt der Essgenüsse sind mir suspekt. Nehmen wir Omas Küche, die mit nostalgischem Schwärmen als neue Alternative zum Gourmetgekoche ins Feld geführt wird. Was meine Großmutter dazumal auf den Tisch brachte, war mastig, fettig, langweilig gewürzt und stets so weich gekocht, als säße am Tisch eine Sippe Zahnloser beisammen. Nur wenige ihrer Speisen schmeckten, und nur die sind mir als heute leider fast ausgestorbene Lieblinge geblieben: Dampfnudel, Stupfnudel, Saure Nieren mit Spätzle, Brennsuppe aus Grünkerngries.

Da mögen Sie nun die Nase rümpfen – so wie ich es nachher tat bei vielen Einladungen, Empfängen, Pressereisen, die den Journalisten an die Tafeln höherer Anspruchsgastromonie führten. Dort wurde teils sehr gut gekocht, teils aber auch bloß Koch- und Ess-Theater gespielt. In jener Zeit habe ich aus kulinarischen Frust- und Lusterlebnissen meinen eigenen Geschmack entwickelt: die Vorliebe für das Raffinement des Einfachen in ordentlicher Qualität, ganz egal aus welchem Kulturkreis es stammt. Es gilt die Einlassung von Kabarettist Jochen Malmsheimer, wonach die Hinzufügung von Mayonnaise zum Wurstbrot ein Verbrechen an selbigem und der Menschheit ist.

Um nicht missverstanden zu werden: Meine Art Einfachheit schließt grundsätzlich Lieblosigkeiten aus, wie sie in der „gut-bürgerlichen” Küche leider weit verbreitet sind, ebenso chemisch aufgemotzten Fabrik-Fraß auf Basis von Tierquälerei und industrieller Ackerverunstaltung. Es schmeckt mir einfach nicht, wenn ich weiß, dass solche Scheiße auf dem Teller liegt. Nix gegen ein paniertes Schnitzel, wenn die dazugehörige Sau vorher eine gute Zeit hatte, Koch/Köchin selbst eine gute Pannade machen und das darin gewälzte Fleisch in der Pfanne braten – statt ein am Fließband vorfabriziertes 0-8-15-Fertigteil in der Fritteuse zu ersäufen.

Gar nix auch gegen daheim mal schnell zubereitete Speisen. Pfannkuchen etwa. Ich bin ein Meister im Pfannkuchenbacken: Ein paar Eier mit ein, zwei Schüttungen Mehl, einer Portion Milch sowie etwas Salz und Zucker verrührt, dann schön in Olivenöl ausgebacken. Dazu ein simples Pilzragout oder ein paar gedünstete Tomaten oder nur Marmelade. Ist in 20 Minuten fertig, schmeckt prima. „Was soll denn das für ein Rezept sein”, motzt Freund Walter und fordert genaue Angaben über die Zahl der Eier, über Mehltype und Milchart sowie deren Mengen in Gramm und ccm, über die Backtemperatur in Grad Celsius, die Backzeit je Fladen in Sekunden.... Ach du lieber Gott, meine Küche ist doch kein Präzisionslabor. Dort geben Fantasie und Gefühl, Finger, Augen, Nase, Zunge und Gaumen den Ton an. Das klappt immer – und wenn doch nicht, muss halt Malmsheimer ran.

(Erstabdruck/-veröffentlichung außerhalb dieser website 35. Woche im August 2014)

 

Quergedanken Nr. 114

ape. So. Das WM-Ding ist gelaufen. Herzlichen Glückwunsch nachträglich allen, die am Titelgewinn mitwirkten und teils noch immer im Freundenstatus „Wir sind Weltmeister” schwelgen. Ich gehöre nicht dazu, habe nämlich im Gegensatz zu Millionen Deutschen leider weder mitgekickt noch massiert. (Pech halt: Ehedem hatte es bei mir auch nicht zum Papst gereicht). Dafür viel geguckt, aber erst im Endspiel richtig guten Fußball gesehen. Mancher seither vom „hohen Niveau” der WM schwärmende Zeitgenosse hat wohl ein anderes Turnier erlebt. Für meines waren eher die Halbfinals typisch. Defensives Herumtaktieren bei der öden Partie Argentinien vs. Niederlande. Als mit der anderen Begegnung die deutsche Mannschaft endlich zu schönem Qualitätsfußball auflief, brach der brasilianische Gegner leider sogleich völlig zusammen. Statt Match von Weltklasse gab's Schützenfest: im Ergebnis fulminant, fußballerisch aber bald nicht mehr so arg interessant.

Was machen wir nun mit dem Rest des Sommers? Man könnte den sportiven Hype nutzen, um den eigenen Body ein bisschen in Wallung und Form zu bringen. Zumindest legt das eine Werbung nahe, die schon während der WM mit Bildern von rennenden, paddelnden, strampelnden, gymnastisierenden Schönlingen im Freien, in Mucki-Buden und Wohnzimmern lockte. Haben Sie etwa gleich kapiert, was diese TV-Werbung mit ständig eingeblendeten Smartphones will, die irgendwelche Tabellen zeigen? Spätere Erkenntnis: Da wird nicht für mehr oder minder gesundes Sporteln geworben, sondern für Telefone, die sich mit speziellen Apps in digitale Antreiber für willensschwache Freizeitsportler verwandeln.

Das tät noch fehlen, freiwillig die Netzkonzerne beim Ringen mit dem inneren Schweinehund zuschauen und persönliche Vitaldaten abschöpfen lassen. Sind wir zu blöd, um Kniebeugen, Liegestütze, Klimmzüge selber zu zählen? Sind wir zu abgestumpft, um zu merken, ob das selbst gewählte Jogging-Pensum uns unter- beziehungsweise überfordert? Oder sind wir so lasch und unselbständig geworden, dass uns sportive Betätigung ohne elektronische Vorturner und Einpeitscher unmöglich erscheint? Es kommt noch so weit, dass selbst das Liebesleben dem Kommando einer Optimal-Live-App unterstellt wird: Heute 500 Meter Kraulschwimmen, morgen eine Stunde Flirt sitzend in der Kneipe, übermorgen Geschlechtsakt 15 Minuten Rückenlage. Inklusive Automatik-Weiterleitung aller Abläufe und Ergebnisse an Netzprovider nebst Verwertungsfirmen.

Wer das mag, bitteschön. Freund Walter aber mag gar nicht mehr – die Striptease-Puppe im Digitaltheater spielen. Seine Konsequenz: kein Smartphone, kein Tablet, kein Einkauf im Internet, Bezahlung überall nur in bar, kein Facebook, keine Payback- und Kunden-Cards, Internetnutzung radikal reduziert und beschränkt auf einen mit mehreren Mitbewohnern unter gemeinsamem Passwort betriebenen Kollektivrechner. Sie, liebe Leser/innen, finden das absurd, gar entbehrungsreich? Walter indes lässt ausrichten, er freue sich über gewonnene Lebensqualitäten und darüber, dass sein digitales Profil überwiegend aus Nichts oder für Big Data nutzlosem Müll besteht. Da wäre allerdings zu bedenken, dass die große Koalition aus geheimdienstlichen und wirtschaftlichen Datenkraken ihn wegen solcher „Unsichtbarkeit” für ein besonders gefährliches Subjekt halten könnte. Zumal er nicht allein ist: die Offline-Verschwörung greift um sich.

 

(Erstabdruck/-veröffentlichung außerhalb dieser website 30./31. Woche im Juli/August 2014)

Quergedanken Nr. 113

ape. „Darf man Fußball auch hassen?” Mit dieser Schlagzeile ging mein Leib- und Seelenblatt „Die Zeit” in die erste WM-Woche. Hassen – das finde ich ein bisschen arg, verehrte Kollegen/innen. Auch wenn angesichts der derzeitigen Massenwelle schier narrischer Liebe zur Kickerei die Betrachtung des emotionalen Gegenteils publizistisch nahe liegt. Natürlich darf man im Kopf alles. Die Gedanken sind frei, hierzulande ist es sogar das Wort. Trotzdem sollte sich dieser Tage jeder gut überlegen, ob und wo er Abneigungen gegen Fußball offenbart. Bei TV-Interviews unter sich vor Großleinwänden in schwarz-rot-güldener Kostümierung vergnügenden Fans war bisweilen zu hören: Deutsche, denen die WM mitsamt Abschneiden der deutschen Mannschaft schnurzpiepegal ist, seien „bekloppt” oder – da wird’s nun doch etwas gruselig – „undeutsch”.

Bekanntlich ist mein Interesse an dieser Sportart mäßig. Dennoch kann ich einem guten Spiel durchaus einiges abgewinnen. Als Zuseher, versteht sich. Selbst Ball und Mitspieler zu treten, käme nie infrage. Grund: Ich bin bei zwischenmenschlichen Kulturtechniken (zu denen auch der Mannschaftssport gehört) zwar mit den Händen recht geschickt, aber mit den Beinen leider ziemlich ungehobelt. Weshalb Körpereinsatz, bei dem Handspiele mit Strafstößen oder Rausschmiss geahndet werden, meine Sache nicht ist.

Beim ersten WM-Spiel mit deutscher Beteiligung (kurz vor Verfassen dieses Textes) hielt sich das Genusspotenzial für mich in Grenzen. Führungstor gegen Portugal durch Elfmeter in der 12. Minute, ab der 37. nur noch zehn demotivierte Gegenspieler, 3:0-Pausenstand: Damit war die Begegnung ergebnistechnisch zwar ein Fest für die Mannen aus Deutschland, aber hinsichtlich Spannung und Fußballkunst nach der ersten Hälfte schon vorbei. Freund Walter, von der Fußballeritis dauerinfiziert, führte dennoch die zweite Halbzeit hindurch Freudentänze auf und gab lautstark die befremdliche Losung aus: „Und jetzt schlachten wir Portugal!” Mir kommt das, mit Verlaub, unsportlich, ja unritterlich vor. Welche Ehre sollte gewinnen, wer einem bereits am Boden liegenden Gegner noch Tor um Tor reintritt. Es schossen dann „die Unsrigen” gottlob nur noch eines.

Nachher, so ist zu hören, hat Portugals Boulevardpresse den Schiedsrichter aus Serbien als deutschfreundlichen Schieber durch den Fleischwolf gedreht. Was ungerecht ist: Der Mann urteilte hart, aber in der Sache tadellos. Die Schiedsrichterei ist halt ein undankbarer Job; bei umgekehrtem Spielverlauf hätten „Bild” und Co. wohl eine serbisch-portugiesische Verschwörung angeprangert. Überhaupt scheint das eine Gesetzmäßigkeit im Fußball zu sein: Die Verliererseite sieht im Schiri den schuldigen Depp; und da immer einer verliert, bleibt der Unparteiische selten ungeschoren. Liebe macht eben blind, weshalb auch der Fußballgemeinde die Hass-Frage gestellt werden kann: Darf man Schiedsrichter oder gegnerische Mannschaften oder Fußballverächter hassen?

Oder mal andersrum gefragt: Kann man den Fußball angesichts seiner kommerziellen und verbandspolitischen Verhurung noch mit heißblütiger Unschuld lieben? Jetzt ist es an Walter, auf den Tisch zu hauen: „Ja verdammt, man kann, darf, soll! Wir lassen uns doch von Werbefuzzis, miesen Geldsäcken und korrupten Funktionären den Spaß am Spiel nicht verderben – solange der Ball rund ist und zwei Mannschaften eifrig um ihn ringen.” Heureka!

 

(Erstabdruck/-veröffentlichung außerhalb dieser website 26./27. Woche im Juni 2014)

Quergedanken Nr. 111

ape. Der Arzt sagt, ich soll mich nicht immer so aufregen. Das sei schlecht für die Gesundheit. Wenn mich aber der Zorn packe, müsse ich ihn gleich wieder ableiten. Wie? Indem ich mein Kopfkissen verprügle oder im Wald die Bäume anschreie. Der medizinische Rat will mir nicht recht einleuchten. Denn Bäume waren mir stets die besten Genossen und auch mit dem Kissen habe ich keinen Streit. Warum den Unmut auslassen an denen, die wehrlos sind und sowieso völlig unschuldig am Weltenquatsch?

Was können Wald und Bett dafür, dass mir die Galle hochkommt beim Katastrophen-Genöhle über jüngste PISA-Testergebnisse? Da war unser Nachwuchs beim Lösen praktischer Lebensaufgaben im OECD-Vergleich „bloß mittelmäßig”. Deutsche Kids können Fahrscheinautomaten und Routenplaner nicht so fix bedienen wie Koreaner und Chinesen. Mal davon abgesehen, das es mir trotz Universitätsbildung oft genauso geht, und dass asiatische Ticketautomaten vielleicht einfach nutzerfreundlicher sind als diejenigen der Deutschen Bahn: Was ist so schlimm an mittelmäßigem Abschneiden?

Es gehört zum Wesen von Leistungsvergleichen, dass stets die meisten Teilnehmer Mittelfeld sind. Kennt man von der Bundesliga: Kleine Abstiegszone, große Mitte und als Spitzengruppe der FC Bayern München. Welches Naturgesetz verlangt denn, dass Deutschland bei allem und jedem protzen muss wie die bayerische Fußballgeldmaschine? Mittelfeld ist ein guter, weil normaler und noch etwas lebensfroher Rang. Ewig klassenbester Streber ist Mist: Jeder will bei ihm/ihr abschreiben, niemand mit ihm/ihr knutschen.

Neulich war Freund Walter Probefahren. Ein neues Auto steht auf dem Investitionsplan; notgedrungen, weil das hiesige öffentliche Regionalverkehrswesen einfach nicht in die Puschen kommt. Nach dem Besuch im Autohaus hätte er vielleicht doch besser erstmal Bäume bebrüllt oder Kissen verdroschen. Stattdessen kotzt er mir seinen Frust über „automobile Neuheiten” ungebremst auf den Tisch: „Wenn schon Auto fahren, dann richtig. Ich will nicht in einem Computer auf Rädern hocken und bloß noch kutschieren wie der Ochse am Nasenring!”

Dann erzählt er von Bremsen, Gaspedalen, Schaltungen, Scheibenwischern, Scheinwerfern mit eigenem Willen; von Verbrauchsoptimierungsrechnern, Spurhaltungs-, Abstands- und Einparkautomatiken; von sprachgesteuerten und sprechenden Türen, Gurten, Navis, Infotainmentkonsolen, Internetschnittstellen; von Möglichkeiten aus dem fahrenden Auto die Rollläden daheim zu schließen, die Klobrillenheizung anzuwerfen, den Standort der Kinder zu ermitteln, den Blutdruck des Opas abzurufen oder die Paarungsbereitschaft des Lebenspartners zu kalkulieren... Zwecks Sicherheit der Verkehrsteilnehmer stehe dies alles in permanentem Datenaustausch mit einem globalen Überwachungsnetz. Standardausstattung: NSA-on-bord.

Walter ätzt: „Furze am Steuer – und die Leitstelle veranlasst einen Ferncheck deines Gesundheitszustandes; der Bordcomputer chauffiert dich dann zur nächsten Bedürfnisanstalt nebst Rasthaus mit Fencheltee und Wellness-Angebot.” Noch mehr teure Technik, die kein Mensch braucht, sage ich. „Nö, nö,” widerspricht der Freund spitz: „All die neuen Automatikfunktionen der Fahrzeuge sind schon deshalb nötig, weil sich wegen der vielen akustischen und optischen Automatiksignale des Bordsystems kein Mensch mehr mit Selbstfahren abgeben kann.” Oh weh, gebt mir ein Kopfkissen, schnell!

 

(Erstabdruck/-veröffentlichung außerhalb dieser website 17./18. Woche im April 2014)

Quergedanken Nr. 110

ape. Nach dem bayerischen Fußballkrösus müssen auch wir gestehen: Walter und ich sind Glücksspieler, Zocker. Immerhin keine Abzocker. Wir haben niemanden geschädigt, erst recht den Staat nicht, sondern nur uns selbst. Drei Euro für jeden jede Woche, gesetzt in einer aussichtslosen Wette, aus 49 Zahlen 6 richtige zu erraten. Abzüglich einiger Kleingewinne hat uns das in 20 Jahren zusammen 5000 Euro gekostet – gezahlt an die staatliche Lottogesellschaft und damit wenigstens keinem Spekulanten in den Gierhals gestopft. Zum Trost verbuchen wir die verlorenen Einsätze als freiwilligen Steuerzuschlag zwecks Förderung des Allgemeinwohls.

Es sind nicht ganz 5000. Denn wir lassen stets die Finger vom Spiel, wenn der Jackpot über drei Millionen klettert. Das mag jeder Reiz-Reaktions-Logik widersprechen, war aber zwischen uns vom ersten Tippschein an vereinbart. Und zwar aus folgendem, zugegeben von purem Aberglauben herrührendem Grund: Es möchte sein, dass der Teufel uns gemäß der Wahrscheinlichkeitsrechnung jeden durchschnittlichen Gewinn verwehrt – um dann überraschend mit einem prallen Jackpot nach unseren Seelen zu greifen.

„Niemand, der auf Millionengewinn hofft, wird verstehen, was du meinst”, brummt Walter. Kreuzgewitter, was ist denn daran so schwer zu begreifen? Also anders formuliert: Was sollte unsereins mit 8, 10 oder 20 Millionen anfangen? Champus (mag ich nicht) gluckern und von güldenen Tellern Kaviar (mag ich nicht) futtern. Das kleine Westerwaldhäuschen (liebe ich) gegen eine Prachtvilla (mag ich nicht) in bester Rheinlage tauschen. Eine Nobeldatsche auf den Kanaren erwerben (ist mir zu umständlich). Ins regionale Establishment (langweilig) aufsteigen und den Großbürger im feinen Zwirn geben (ach Gottchen). Die Puppen tanzen lassen (zu herzlos). Durch Investieren aus dem Geld mehr Geld machen (völlig sinnlos)......

Mein alter Lektor pflegte einst irgendeinen noch älteren Gelehrten mit dem Satz zu zitieren: „Macht macht böse.” Und meine Oma selig hatte stets den Spruch zur Hand: „Reichtum verdirbt den Charakter.” Bei Marxens ihr'm Karl hieß es: „Das Sein bestimmt das Bewusstsein.” Da wird nun mancher der ein bisschen Reichen und Mächtigen am Mittelrhein entschieden widersprechen. Ach, Kinners: Ich bin über die Jahre etlichen von euch immer wieder begegnet, traf dabei nicht selten auf fleißige, kluge, umgängliche Unternehmer und Apparatschiks.

Ich habe manchen aufsteigen sehen – und mehrfach erlebt, dass sich dabei peu a peu Habitus, Denken, Empfinden, Handeln verändern. Mit einigen plaudere und trinke ich bis heute gerne, aber untergebener Angestellter wollte ich bei keinem sein. Walter hebt mahnend den Zeigefinger: „Davor, Mister Querdenker, sind auch wir nicht gefeit. Mit ein paar Milliönchen im Kreuz oder auf erhöhter Machtposition schmeckt die Welt halt anders als in den Niederungen. Wärest du Millionär würden deine Kommentare womöglich die Lage der Nation nicht mehr nach dem Stand der sozialen Gerechtigkeit bemessen, sondern die Kapitalmärkte zum Maß aller Dinge machen.”

Herr, bewahre mich vor dem Pferdefüßigen! Weshalb wir Lotto spielen nicht um reich zu werden. Wir tippen bloß fürs Träumen vom kleinen Glück: mit ein paar zehntausend Euro Gewinn bei etwas weniger Arbeitsstress und etwas mehr Unabhängigkeit uns möglichst treu zu bleiben. Dummes Spiel, blödes Laster? Ja natürlich.

 

(Erstabdruck/-veröffentlichung außerhalb dieser website 13. Woche im März 2014)

Quergedanken Nr. 109

ape. Als ich 1976 zum Grundwehrdienst in die Koblenzer Gneisenau-Kaserne einrückte, war völlig klar: Ich würde nun 15 Monate lang, neben allerhand Unfug, das militärische Kämpfen lernen, aber mit 99,9-prozentiger Sicherheit nicht wirklich kämpfen müssen. Da stand das Grundgesetz vor, das die Aufgabe der Bundeswehr auf Landesverteidigung im Falle eines bewaffneten Angriffs von außen aufs Bundesgebiet festlegt. Als Schütze-Arsch Pecht den in Sachen Gehorsam eher unwilligen Bürger in Uniform gab, waren die Franzosen längst Gut-Freund, machten die Sowjets keine Anstalten mehr, den Kurfürstendamm zu überrollen. Weit und breit also keine Aussicht auf den Verteidigungsfall.

Hätte seinerzeit ein Bundeswehrgeneral behauptet, Deutschlands Freiheit müsse am Hindukusch verteidigt werden, er wäre in der Klappsmühle gelandet. Hätte mein damaliger Hauptmann uns Rekruten Einsätze für zentralasiatische Gebirge oder afrikanische Steppen trainieren lassen: Wir hätten ihn, subito, wegen verfassungsgfeindlicher Umtriebe vors Truppendienstgericht gebracht. Warum die Veteranen-Schwänke? Weil am Kontrast zu damals deutlich wird, wie sehr sich seit Schröder/Fischer die deutsche Militärpolitik vom gesellschaftlichen Konsens der Landesverteidigung entfernt hat. Junge Deutsche, die heute die Uniform anziehen, müssen auf eine hohe Wahrscheinlichkeit gefasst sein, in Kampfgebiete irgendwo auf der Welt auszurücken.

Dem Einsatzfall im grundgesetzlichen Geist entspräche die neue Politik indes nur, läge das Kosovo am Rhein, Kabul im Hunsrück und begänne Zentralafrika gleich hinter Neuwied. Das ist zwar nicht so, dennoch soll nach jüngsten Einlassungen von Bundespräsident, Außenminister und Verteidigungsministerin alsbald der ganze Globus in den Zuständigkeitsbereich der deutschen Wehr fallen. Deutschland müsse gemäß seiner gewachsenen Bedeutung in der Welt außenpolitisch größere Verantwortung übernehmen, heißt es, verstärktes Militärengagement inklusive.

Zur Hölle, was für ein altbackenes Verständnis vom Verhältnis zwischen Außenpolitik und Militär kocht das Trio aus Ex-Pastor, Sozialdemokrat und Unions-Kommandeuse da auf?! Herrschaften, es ist ein Irrtum, das Militär als wohlfeiles Werkzeug der Außenpolitik zu verstehen. Umgekehrt wird im globalen Zeitalter ein Schuh draus: Vornehmste Aufgabe von Außenpolitik ist es, den Einsatz des Militärs zu verhindern. Das wäre mal eine richtig ehrenwerte Verantwortung: Deutschlands Gewicht in die Waagschale zu werfen als Kriegsskeptiker, Kriegsverzögerer, Kriegsverhinderer, als Vermittler, Meisterdiplomat, Alternativenentwickler.

Hah, aber die neudeutsche Außenpolitik hat mal wieder den Clausewitz nicht verstanden: „Krieg ist die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“ hatte der preußische Militärtheoretiker gesagt – damit jedoch gemeint: Krieg ist die Bankrotterklärung der Politik. Die Geschichte hat so viele dieser Bankrotte erlebt, dass auch wir nun irrtümlich glauben, die Menschheit könne ohne Militäreinsätze als vermeintliche ultima ratio der Politik gar nicht auskommen.

„So ernst mitten im Karneval“ grummelt da Walter. Ach Freund, der du nie gedient hast, ich weiß: Die einzigen Uniformierten, die dich im Augenblick interessieren, sind die erwachsenen Funkenmariechen und Tambourmajorinnen. Ich wollt', es gäb keine anderen Soldaten auf der Welt – dann könnten Politiker bloß Politik machen.

 

(Erstabdruck/-veröffentlichung außerhalb dieser website 9. Woche im Februar 2014)

Quergedanken Nr. 108

ape. Kennen Sie das auch? Plötzlich flutet eine mordsmäßige Aufregung durch die öffentlichen Kanäle, du aber kannst partout nicht begreifen, was die Leute derart in Rage versetzt. So jetzt wieder erlebt beim Outing von Thomas Hitzlsperger. Mehr noch beim Vorstoß der Landesregierung von Baden-Württemberg, die „Akzeptanz sexueller Vielfalt“ als schulisches Bildungsziel festzuschreiben. Das Bekenntnis eines Ex-Nationalfußballers zu seiner Homosexualität wird bestaunt und gefeiert, als sei's das siebte Weltwunder. Zugleich löst die Stuttgarter Schulinitiative eine Kontroverse aus, die ich schon vor 20 Jahren abgeschlossen glaubte.

Geht's noch?! Wie weltfremd muss man heute sein, um schwule Kicker für etwas Sonderbares zu halten? Oder schwule Leichtathleten, Ruderer, ja auch Gewichtheber und Boxer. Oder schwule Polizisten und Soldaten, Baggerfahrer und Müllwerker, Bäcker und Dachdecker, Lehrer, Ärzte und Journalisten... Das gilt ebenso für die Frauen in jedweder Berufs-, Sport, Gesellschaftsgruppe: einen Anteil von Lesben gibt es überall. Und siehe: Homosexuelle können in ihren Berufen und Hobbys genauso gut oder schlecht sein wie Heteros. Auch schwule Börsenzocker können uns an die Wand fahren und lesbische Chefinnen uns drangsalieren. Ein Außenminister ist ein Außenminister, ein Bürgermeister ein Bürgermeister, eine Kanzlerin eine Kanzlerin: Mit wem die wie privat einvernehmlich Sex haben und/oder zusammenleben ist mir völlig wurscht.

Zugegeben: Auch ich habe in jungen Jahren eine Weile gebraucht, um zu verstehen, dass die Natur bei der Zuteilung sexueller Orientierung ganz anders tickt, als kirchliche und (spieß)bürgerliche Familiendogmatiker mir einreden wollten. Heute weiß ich: Die Natur sieht seit jeher in jeder Population für beide Geschlechter einen Anteil Homosexueller vor. Der dürfte irgendwo zwischen 3 und 10 plus X Prozent liegen. Genaue Zahlen sind schwer zu erheben, denn je feindseliger eine Gesellschaft ihre Schwulen und Lesben behandelt, umso geringer deren statistischer Anteil. Nicht weil es weniger von ihnen gäbe, sondern weil weniger ihre Homosexualität zugeben – oft nicht mal sich selbst gegenüber.

Aber eigentlich nervt es, all diese ollen Argumente 2014 wieder aus der Schublade holen zu müssen. Bis zum aktuellen Streit um den baden-württembergischen Bildungsplan ging ich davon aus, dass spätestens seit den 1990ern allüberall die Lehrer im Sexualkundeunterricht auch über Homosexualität als eine natürliche und normale Orientierung unter anderen natürlichen und normalen Orientierungen aufklären. Was in drei Gottes Namen gibt es denn darüber zu streiten?! Ehrlich: Mich interessiert nicht die Bohne, wer in meinem Freundes- und Bekanntenkreis oder sonstwo hetero, homo oder bi ist. Nein, nein, mit Toleranz-Ethos oder Gutmenschentum hat das nix zu tun – bloß mit Anerkennung von Selbstverständlichkeiten.

Walter bringt einen klitzekleinen Einwand vor: „Blöd finde ich allerdings, wenn eine prachtvolle Frau mich stundenlang hoffnungsvoll Süßholz raspeln lässt, um mir am Ende des Abends zu offenbaren, dass in sexueller Hinsicht alle Mühen vergebens waren, weil daheim ihre Lebensgefährtin warte.“ Tja Freund, so ist das eben mit dem Liebesspiel unter erwachsenen Menschen, egal ob hetero oder homo: Überraschungen und ein bisschen Risiko gehören dazu, sonst wär's kein so schönes Spiel.

 

(Erstabdruck/-veröffentlichung außerhalb dieser website 4./5. Woche im Januar 2014)

Quergedanken Nr. 107

ape. Schlimme Hochwasser, katastrophische Tropenstürme und eine Weltklimakonferenz mit grandiosem Null-Ergebnis. Oder: Finanzkrise unter Einsatz von Abermilliarden Volksgroschen gerade nochmal überlebt, gleich rollen die Kugeln wieder im Casino nach gehabter Manier. Nehmt dies als Beispiele für eine Allgemeintendenz im abgelaufene 2013, und ihr wisst, warum es mir vor Jahresrückblicken graust: Sie sind meist furchtbar frustrierend. Eben deshalb besteht Freund Walter boshaft darauf, dass ich heuer mal einen schreibe – und verlangt hämisch auch noch „journalistische Ausgewogenheit“ zwischen schlechten und guten News. Nun denn.

Witz des Jahres 2013:

Beelzebub probt Aufstand gegen den Teufel. Die acht größten profitgeilen Datensammel-Konzerne aus den USA schimpfen wie die Rohrspatzen auf die maßlose Datensammelwut der Geheimdienste. Ihre Befürchtung: Der systematisch vergläserte Kunde könnte als Bürger mal die Schnauze voll haben von diesem wie jenem Ausspioniertwerden, könnte auf Privatsphäre bestehen und die Jalousien runterlassen.

Schwachsinn des Jahres:

Amazon, DHL und Co. erproben Paketzustellung per Flugdrohne. Als reguläres Transportsystem angewendet, gäbe das ein arges Gebrumme, Geknatter, Gedränge, Gerempel im unteren Luftraum. Der Gesetzgeber würde im Interesse des Wirtschaftsstandortes den Umbau von Terrassen und Balkonen zu Landeplattformen vorschreiben. Und die Straßenverkehrsordnung bekäme einen neuen Paragraphen: Helmpflicht für alle bei jedem Aufenthalt im Freien. Walter hat sich deshalb zu Weihnachten einen Praxisgrundkurs im Tontaubenschießen schenken lassen.

Blödester Trend des Jahres:

Das deutsche Fernsehen lässt niemanden mehr einfach mal nett oder interessant in der Flimmerkiste kochen, musizieren, tanzen, flirten oder auch bloß hübsch sein. Alles und jedes wird zum Totschlagwettbewerb oder zur K.O.-Kampf-Konkurrenz um furzige Superstartitel hochgejazzt. „Sieg oder stirb“ heißt die primitive Maxime, die aus Abendshows Instrumente der Volkserziehung macht. Lernziel: Das Leben ist ein Krieg jedes gegen jeden und nur der Sieg zählt.

Beste Aktion des Jahres:

Angriff auf das digitale Imperium – 562 renommierte Autoren aus 83 Ländern protestieren mit einem gemeinsamen Manifest gegen Totalüberwachung durch Geheimdienste und Internet-Konzerne. Der Elfenbeinturm erwacht. Endlich!

Netteste Geste des Jahres:

Zum Ergebnis mag man stehen wie man will. Dass aber die SPD ihre Mitglieder über die Große Koalition abstimmen ließ, zeugt von Freundlichkeit der Führung gegenüber der Basis (geboren aus dem Mut der Verzweiflung). Mal sehen, was die SPD-Granden künftighin mit dem lange Jahre fast vergessenen Graswurzel-Geist anfangen, den sie jetzt wieder aus der Flasche gelassen haben.

Bewegendste Nachrichten des Jahres:

Dieter Hildebrandt und Nelson Mandela haben das Zeitliche gesegnet. Was uns mit beiden so sehr verbindet, ist weniger ihre auf unterschiedliche Weise enorme Bedeutung für ihr jeweiliges Land. Es ist vielmehr beider Beispiel für persönliche Haltung: sich nicht unterwerfen, nicht korrumpieren, nicht verbiegen lassen, sondern sich treu bleiben in der Gewissheit, dass die Ordnung der Menschen veränderbar ist. In diesem Sinne: Gutes Neues!

 

(Erstabdruck/-veröffentlichung außerhalb dieser website 52. Woche im Dezember 2013)

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