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2016-10-12 Musikwelt:

 

Eine Saison ohne Chefdirigent,
die es trotzdem in sich hat

Im Gespräch mit Günter Müller-Rogalla, dem Intendanten der Rheinischen Philharmonie Koblenz


ape. Koblenz.   Im September begann mit einem schönen Tag der offenen Tür im Koblenzer Görreshaus die Spielzeit 2016/17 bei der Rheinischen Philharmonie. Diesem Konzertjahr haftet eine Besonderheit an: Das Koblenzer Staatsorchester muss es ohne Chefdirigenten bestreiten. Denn der bisherige Amtsinhaber Daniel Raiskin ist schon weg, sein Nachfolger Garry Walker noch nicht da.



Wahl und Verpflichtung des Schotten Walker waren zu kurzfristig erfolgt, als dass der international viel beschäftigte Dirigent noch für diese Saison aus seinen zahlreichen anderweitigen Bindungen hätte aussteigen können. So geht das Orchester nun durch eine Interimsspielzeit, deren auch künstlerische Programmplanung fast gänzlich auf den Schultern seines Intendanten Günter Müller-Rogalla lag. Um das gleich vorweg zu sagen: Nach bloßer Lückenfüllerei sieht das im Spielzeit-Büchlein zusammengestellte Programm für 2016/17 ganz und gar nicht aus. Kontinuität ist gesichert, interessante Höhepunkte sind zahlreich und einige Neuerungen gibt es ebenfalls. Obendrein lässt sich bei genauerem Hinsehen an vielen Stellen eine konzeptionell strukturierende Dramaturgenhand erkennen.

„Natürlich war es eine Freude, meine dramaturgische Neigung mal ausleben zu können”, erklärt Müller-Rogalla im Gespräch. Gleichwohl würde er solchen Alleingang nicht jahrelang machen wollen: „Die gedeihlichste Form der Programmplanung ist für mich das ideenreiche Gespräch mit mehreren Beteiligten, vor allem zwischen Intendant und Chefdirigent.” Und wie er Garry Walker inzwischen kennengelernt habe, sei das auch ein Zug des designierten Chefs am Dirigentenpult der Rheinischen. Was der Intendant aktuell gar nicht mag, ist der Begriff „Interimsspielzeit”. Das klinge ihm zu sehr nach Notbehelf, um die cheflose Zeit irgendwie zu überbrücken. „Das aber entspricht nicht dem Stand des Orchesters, nicht seinen Fähigkeiten und seinem Selbstbewusstsein nach elf Jahren Arbeit mit Daniel Raiskin.”

Müller-Rogalla ist sicher, dass die Rheinische in ihrer derzeit sehr guten Verfassung ein vollwertiges Konzertjahr liefert – das die Eigenart hat, dass es gänzlich mit wechselnden Dirigatsgästen bestritten wird. Daraus ergibt sich automatisch die Anforderung an das Orchester, seine oft gelobte Flexibilität maximal auszuspielen. Denn wechselnde Gäste bringen eine Vielzahl von Handschriften mit sich. Zugleich bietet solche Vielgestaltigkeit Freiheiten bei der Programmgestaltung. „Wir dürfen diesmal auf die schwergewichtigen Großwerke des klassischen Pflichtrepertoires etwa von Beethoven, Brahms, Mahler, Bruckner verzichten, mit denen Chefdirigenten ihre Eckpfähle zu setzen pflegen. Damit warten wir auf Garry Walker”, erläutert der Intendant. Er lädt das Publikum dazu ein, das Jahr vom einen zum nächsten Chefdirigenten als „kleine, aber feine und sonnige Reise” mitzumachen, die das Koblenzer Staatsorchester „mit leichtem Gepäck” unternimmt.

Das Konzertprogramm soll Musikern und Hörern Freude bereiten. Es muss zugleich aber auch so spannend und einnehmend sein, dass es über einen letztlich doch recht gewichtigen Umstand hinwegtröstet: die vorerst unbefriedigte Neugier auf Stil und Vermögen des neuen Leiters der Rheinischen sowie das Fehlen der hierorts traditionell sehr hohen Identifikationswirkung, die auch für das Publikum vom heimischen „Chef d‘Orchestre“ seit James Lockhardt ausgeht. Für die großen Konzerte der Anrechtsreihe beim Musik-Institut Koblenz war es für Müller-Rogalla darum von Anfang an klar, dass diese mit möglichst hochrangigen, internationalen Gastdirigenten besetzt sein sollten. Diesem Gedanken hat sich Olaf Theisen, Intendant des Instituts, sofort angeschlossen. Und so konnten von Müller-Rogalla für diese Konzertreihe erfreulicherweise viele internationale Dirigenten verpflichtet werden, die gemeinsam mit den Solisten, auf die man sich ebenfalls verständigt hatte, eine hochinteressante und spannende Saison erwarten lassen.

Zum Auftakt spielte im September die Rheinische unter dem Dirigat von Paul Goodwin. Warum Goodwin? „Weil ich für Elgars Enigma-Variationen einen Briten haben wollte, denn ich glaube schon, dass gerade diese Komposition ein Schlüsselwerk des englischen Repertoires ist und das Orchester darum mit einem Engländer eine inspirierende Zeit erleben dürfte“ sagt Müller-Rogalla.

Das Planungszusammenspiel zwischen dem Intendanten der Philharmonie und dem des Musik-Instituts bringt in den Folgemonaten manch ebenso attraktives wie innovatives bis gewagtes Gespann in die Koblenzer Rhein-Mosel-Halle. So am 28. Oktober den jungen Dirigenten Perry So und die Marimbaphon-Virtuosin Marta Klimasara. Warum dieser Jungdirigent? Antwort Müller-Rogalla: „Weil ich ihn für ein enormes Talent halte und weil bei den Jungen die Bereitschaft groß ist, sich neue Werke abseits des Standardrepertoires anzueignen, wie das Konzert für Marimbaphon Nr. 2 von Marcin B³a¿ewicz eines ist.” Neue Klangwelten virtuos erschließen – das gilt auch für das Anrechtskonzert am 18. November, in dessen Zentrum das Konzert für Trompete und Orchester in As-Dur vom 2012 verstorbenen Alexander Arutjunjan steht. Den Solopart übernimmt die Norwegerin Tine Thing Helseth, derzeit vielleicht die beste Klassiktrompeterin weltweit. Das im Shakespeare-Jahr (400. Todesjahr) passend mit Tschaikowskys „Romeo und Julia” sowie Szenen aus Prokofieffs gleichnamiger Ballettmusik gerahmte Programm wird von Michel Tilkin dirigiert.

Im Januar 2017 folgt in der Anrechtsreihe ein Wiedersehen mit Shao-Chia Lü, einem früheren Chefdirigenten der Rheinischen Philharmonie. Der Abend vereint Rachmaninoffs „Toteninsel”, Liszts „Totentanz” und die „Symphonie fantastique” von Berlioz. Klaviersolist ist Alexander Schimpf. Im Februar dann ein Spanien-Programm mit dem spanischen Dirigenten Rubén Gimeno und mit Tianwa Yang in der Solopartie bei der „Symphonie espagnole“ für Violine und Orchester von Éduard Lalo. Am Ende der Saison beim Musik-Institut kommt es im Mai bei einem amerikanischen Abend mit Werken von Copland, Gershwin und Bernstein womöglich zu einer denkwürdigen Begegnung zwischen Dirigent Wayne Marshall und Pianistin Katharina Treutler. Denn normalerweise spielt Marshall die Soloparts von Gershwins „Concerto in F“ sowie „Rhapsody in Blue“ selbst und dirigiert vom Flügel aus. Müller-Rogalla will es diesmal anders haben – und lässt durchblicken, dass der Brite bei dem aus seiner Sicht ungewöhnlichen Wunsch, sich in Koblenz mit dem Taktstock zu bescheiden, durchaus ein wenig mitgenommen werden musste.



Bleibt das Anrechtskonzert am 31. März nachzutragen, dessen Eckteile Schuberts „Unvollendete” und Brittens „Sinfonia da Requiem” markieren. Dazwischen stehen „Kol Nidrei” für Violoncello und Orchester von Max Bruch sowie „Schelomo” ebenfalls für Cello und Orchester von Ernest Bloch. Solist ist Zvi Plesser. Am Dirigentenpult aber wirkt eine auf nordische Weise charismatische Frau: die zugleich kühle wie explosive, kluge wie emphatische Anu Tali aus Estland. Beim Durchblättern des Saisonprogramms stößt man auf insgesamt drei Gastdirigentinnen. Das sind neben Anu Tali die aus Hongkong stammende Elim Chan sowie die Französin Ariane Matiakh. Letztere dirigiert das 2. Orchesterkonzert im Görreshaus (13.11.), das sich mit Werken von Fauré, Bizet und Françaix der „Musikstadt Paris” widmet, wie der Nachmittag betitelt ist. Wobei Françaix' oft für schier unspielbar gehaltenes Klarinettenkonzert mit Dimitri Ashkenazy einem Solisten anvertraut ist, der es nach Müller-Rogallas Worten „wirklich drauf hat”. Elim Chan leitet dann das 3. Orchesterkonzert im Görreshaus (5.2.), das unter der Überschrift „Musikstadt Prag” steht.

Es ist erfreulich, vermehrte Präsenz von Dirigentinnen im Konzertbetrieb vermelden zu dürfen. Doch irgendwie ist es auch betrüblich, das noch immer als Besonderheit vermelden zu müssen, weil Frauen am Dirigentenpult anhaltend eine Minderheit darstellen. „Für mich war klar”, sagt Müller-Rogalla, „ich will auf jeden Fall Dirigentinnen dabei haben. Die reinen Männerzeiten sind endgültig vorbei.” Nicht, dass der Intendant nun mit aller Gewalt eine Frauenquote erfüllen wollte. „Aber wo gute und zum Programm passende Dirigentinnen engagierbar waren, habe ich zugegriffen.”

Wien, Paris, Prag, Leipzig: Mit diesen alten europäischen Musikmetropolen befassen sich nacheinander die vier Nachmittage der Orchesterkonzerte im Görreshaus. Da ist schöne und interessante Musik zu hören, zugleich gibt es allerhand zu lernen. Stil- und Entwicklungsvergleiche bieten sich an, das Erhören und Bedenken jeweils örtlicher Eigenarten oder europäischer Gemeinsamkeiten. Einführungsvorträge und hintergründige Programmhefte geben Hilfestellung. Überhaupt erstrebt Müller-Rogalla – und von Ferne wohl auch Garry Walker – eine Aufwertung dieser Reihe zur unverwechselbaren, künstlerisch eigenständigen Konzertmarke. Man will weg vom Image, diese alljährlich vier Orchesterkonzerte im räumlich begrenzten Görreshaus seien bloß kleinere Geschwister der Anrechtskonzerte in der Rhein-Mosel-Halle. „Die räumliche Nähe zwischen Klangkörper und Publikum ermöglicht im Görreshaus ganz andere Hörerfahrungen. Hier kann man auch mal mit kleineren Orchesterbesetzungen und ausgefallenen Instrumentierungen experimentieren oder die Möglichkeiten zeitgenössischer Werke ausloten”, begeistert sich der Orchesterintendant für spannendes Musikschaffen auch unterhalb der großsinfonischen Ebene.

In diesem Zusammenhang kommt das Gespräch auf die vielgestaltige Kammermusikpraxis aus den Reihen der Orchestermusiker. Allein elf Konzerte bieten heuer unterschiedliche Kammerensembles im Rahmen der „Stunde der Philharmonie” jeweils sonntagvormittags. Die Rede kommt auf die „Koblenzer Begegnungen”, eine dem Namen nach neue Reihe im Gesamtprogramm des Orchesters, die von Müller-Rogalla indes als „Fortentwicklung der Koblenzer Schlosskonzerte” definiert wird. Je ein Wochenende mit vier Konzerten ist für Frühjahr und Herbst angesetzt. Jeweils drei finden freitags und sonntags im Görreshaus statt, das Samstagabend-Konzert im kurfürstlichen Schloss. Die Besetzungen sind teils kleiner als bisher. Den akustischen Bedingungen im Schloss angepasst, erhält dort das Streichorchester den Vorzug gegenüber dem ganz großen Apparat. Die Auftaktabende im Görreshaus bestreiten Kammerensembles aus Hochtalentstipendiaten der Landesstiftung Villa Musica. Für die beiden Familienkonzerte tritt je ein Solist mit Spezialensemble an – im November 2016 Violine plus Streicher für Vivaldis „Vier Jahreszeiten”, im Mai 2017 Violoncello plus Blasorchester für Guldas entsprechendes Konzert. Die Schlusskonzerte sind jeweils Bläserserenaden.

Wer bei Durchsicht des Saisonprogramms einmal mitzählt, gelangt zu bemerkenswerten Leistungsmerkmalen für das Koblenzer Orchester. Von der Beteiligung der Rheinischen an acht Produktionen des Koblenzer Theaters abgesehen: Heuer deutlich ausgeweitet sind die Angebote im Segment „r(h)ein:blicken und entdecken” mit Kinder-/Familienkonzerten, Aktionen für und in Schulklassen, Jugendworkshops, Probenbesuchen im Orchester. Ebenfalls erhöht hat sich die Anzahl der Auswärtskonzerte: 26 sind es insgesamt, davon 17 in Rheinland-Pfalz. „Das entspricht unserem Auftrag als Staatsorchester des Landes, und ich will dieses Engagement vor allem im nördlichen Landesteil noch ausbauen”, erklärt Müller-Rogalla. Dank neuer, wiederbelebter oder ausgeweiteter Kontakte werden die Musiker aus Koblenz 2016/17 je ein- oder zweimal konzertieren in Namedy, Mayen, Boppard, Idar-Oberstein, Mainz, Neuwied, Bad Kreuznach, Simmern, Neustadt an der Weinstraße, Ludwigshafen und Bad Salzig. Hinzu kommen fünf Auftritte in benachbarten Bundesländern sowie vier Auslandsgastspiele in der Schweiz, den Niederlanden und Italien.

Das sind nur Zahlen, aber sie unterstreichen das Bild eines lebendigen Orchesters von künstlerisch gutem Ruf, das an seinem Standort und in der Region nahe bei den Menschen und im Kulturleben fest verankert ist. Garry Walker hatte bei seinem ersten Interview in Koblenz eben solchen  Eigenschaften besondere Bedeutung zugesprochen. In diesem Sinne ließe sich die jetzige Spielzeit als engagierter Prolog des Orchesters zur Ära Walker verstehen.                  

Andreas Pecht


(Erstabdruck/-veröffentlichung außerhalb dieser website
40. Woche im Oktober 2016)


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