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2015-04-27 Schauspielkritik:

"Die Heilige Johanna der Schlachthöfe" am Theater Koblenz. Inszenierung: Matthias Fontheim

Bert Brechts Systemkritik
ist wieder brandaktuell


 
ape. Koblenz. Bert Brechts „Heilige Johanna der Schlachthöfe” hat bis Ende der 1980er zahllose Aufführungen erlebt. Darunter einige, die Theatergeschichte schrieben. So die von Gustav Gründgens eingerichtete Uraufführung 1959 in Hamburg. Das war 30 Jahre nach Entstehung des  Lehrstücks, 25 Jahre nach Verhinderung der Darmstädter Uraufführung durch die Nazis und drei Jahre nach Brechts Tod. Legendär ist auch Alfred Kirchners Inszenierung 1979, die in einer Bochumer Fabrikhalle inmitten des herumstehenden und -gehenden Publikums spielte. In den letzten zwei Jahrzehnten kam das Werk allerdings kaum noch auf die Bühnen. Zu Unrecht, beweist das Theater Koblenz jetzt.



Die Regie hat Matthias Fontheim übernommen, bis unlängst Intendant des Staatstheaters Mainz. Seine auf 100 Minuten konzentrierte Inszenierung lässt an Klarheit und Schärfe nicht zu wünschen. Von Stefan Heyne ließ er sich eine die Bühne ausfüllende Pyramide aus Sofas heutiger Machart   bauen. Auf der Spitze brennt permanent Feuer: Die Symbole des Industrialismus und der Überflussgesellschaft sind zugleich Kultstätte zur Anbetung des Mammons – sind obendrein als Grabstätte (Pyramide!) Menetekel für den Tod des Kapitalismus dereinst.

Die Pyramide dreht sich, der realen Wirtschaftsmaschinerie gleich, mit unerbittlicher Stetigkeit. Ruhelos kriechen und klettern auch die Menschen über die Sofas: Arbeiter der Schlachthöfe ausgelaugt auf den unteren Stufen, mit Blackberrys allweil Börsenspekulationen abwickelnde Schlachthofkapitalisten oben herum, von oben herab oder wieder hinauf. Das Stück erhellt wie Letztere sich mittels waghalsiger Marktoperationen gegenseitig auszustechen trachten. Derweil hat die Arbeiterschaft für dieses Spiel um Millionen mit schlechten, rücksichtslos ausbeuterischen  Arbeitsbedingungen und Lohnsenkungen oder Arbeitslosgkeit zu zahlen; egal, welcher Herr hgerade Oberwasser hat.

Zwischen alle Fronten gerät Johanna. Als anfangs gottesfürchtige Heilsarmistin glaubt sie naiv an das Gute im Menschen. Sie meint, im Fleischunternehmer Mauler einen mit solchem Kern gefunden zu haben. Die Konfrontation dieser beiden Figuren stellt den Angelpunkt des Stückes dar. Und was Wolfram Boetzle, fast mehr noch Jana Gwosdek in ihren Rollen da an Schauspielkunst abliefern, ist stark.

Er ein Spekulant, der sich zwar zögerlich, aber dann doch von Johanna zum Menschenfreund wandeln lässt. Und das so radikal, dass er vermeintlich um der Arbeiter willen auf Profit und Marktmacht verzichtet, bald als buchstäblich nackter Mann auf der Bühne steht. Boelzle formt einen Mauler, der an solchen Wandel zu glauben scheint, aber letztlich den Lockungen von Kapitalmacht und Börsenzockerei doch nicht widerstehen mag.

Die kleine, zarte, bislang meist in leisen Darstellungen zu sehende Jana Gwosdek explodiert in der Titelrolle förmlich. Ihre Naivität ist von ebenso eindringlicher Natürlichkeit, Feinheit und zugleich Kraft wie nachher der kecke Esprit, mit dem sie Mauler auf den rechten Weg zu bringen versucht. Oder wie der zunehmende Zorn des Erkennens systemischer Gesetzmäßigkeit, der sich in ihrem Gesicht, Sprechen, Bewegen als anwachsende Spannung spiegelt. Die bricht in einer furiosen Schlussszene als Kriegserklärung an den Kapitalismus selbst aus: Johanna reißt sich Parka nebst T-Shirt vom Leib und ihre nackten Brüste schleudern nach Femen-Art den darauf geschriebenen Satz hinaus: „Fuck the System”.

Die in Mainz oft beobachtete Fähigkeit Fontheims als Schauspielregisseur, aus den Mimen stets noch ein Mehr an Intensität herauszukitzeln, trägt bei dieser Arbeit in Koblenz auch für kleinere Rollen Früchte. Im insgesamt gut eingestellten Ensemble profitieren davon besonders Marcel Hoffmanns von zynischer Geldgier vergifteter Jungspekulant Slift und der ängstlich Börsencrash oder Arbeiteraufstand fürchtende Graham von Christoph Maria Kaiser. Fontheim hat seiner Inszenierung einen hohen Level Aggressivität verordnet. Das ist angesichts der Thematik    nachvollziehbar, führt aber allzu häufig zu überlautem Stentorsprechen und Geschrei. Das ist aber die einzige Einschränkung an diesem Abend – der in Zeiten des Turbokapitalismus wieder brandaktuell gewordene Gesellschaftskritik spielt.

Andreas Pecht

Weitere, oben nicht namentlich genannte Mitwirkende:
Reinhard Riecke, David Prosenc, Jona Mues, Ian McMillan, Claudia Felke, Raphaela Crossey.

Infos: >>www.theater-koblenz.de/


(Erstabdruck/-veröffentlichung in einem Publikumsmedium außerhalb dieser website am 27. April 2015)

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Besprechungen früherer Fontheim-Inszenierungen
in Mainz und Bonn:

∇ 2013-05-25a: "Der Lärmkrieg" von Kathrin Röggla am Staatstheater Mainz. Inszenierung Matthias Fontheim

2012-06-05: "Nora" von Henrik Ibsen am Staatstheater Mainz. Regie: Matthias Fontheim

2011-12-04: "Der große Gatsby" am Theater Bonn. Regie: Matthias Fontheim

2011-02-06: "Tod eines Handlungsreisenden" in Bonn. Regie: Matthias Fontheim

2010-06-19: Simon Stephens' „Marine Parade“ in Mainz (DSE). Regie: Matthias Fontheim

2010-02-04: Matthias Fontheims dreckige Inszenierung von Shakespeares "Richard III." in Mainz

2009-06-19: "Die Möwe" von Tschechow am Staatstheater Mainz. Regie: Matthias Fontheim

2008-09-20: "Reiz und Schmerz" von Bruce Norris, deutsche Erstaufführung in Mainz, Regie: Matthias Fontheim

2008-04-07: "Ein Mond für die Beladenen" von Eugene O'Neill in Mainz. Regie: Matthias Fontheim

∇ 2008-01-13: Brecht/Weill-Oper "Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny" in Mainz. Regie: Matthias Fontheim

2007-03-25: Matthias Fontheim inszenierte Tschechows "Onkel Wanja" in Mainz

2006-12-04: Fontheim inszenierte deutsche Erstaufführung von Stephens "Motortown" in Mainz


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