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2015-03-01 Schauspielkritik:

Jan-Christoph Gockel inszenierte in Mainz „Die Ratten” von Gerhart Hauptmann sonderbar, aber berührend

Gespenstische Puppen aus
dem Theaterfundus


 
ape. Mainz. Die Frage vor der jetzigen Mainzer Premiere von Gerhart Hauptmanns „Die Ratten” war: Würde Regisseur Jan-Christoph Gockel (32) den Abend erneut mit Hinzufügung von Meta-Themen aus Autorenleben, Historie und Rezeptionsgeschichte überfrachten wie zuletzt bei seinen Projekten „Metropolis” in Bonn, „Grimm” und „Schinderhannes” in Mainz? Oder würde er sich auf das Stück konzentrieren und so am rheinland-pfälzischen Staatstheater vielleicht ein ähnlich strittiges, aber packendes Ergebnis erzielen wie 2011 mit Schillers „Räuber”? Letzteres ist der Fall und zu berichten nun von einer der sonderbarsten, gleichwohl tief berührenden neueren Umsetzungen der „Berliner Tragikomödie” von 1911.



Gespielt wird vornehmlich in und vor einem bühnenbreiten, dreistöckigen Hochregal, von Julia Kurzweg derart gebaut, dass die menschlichen Protagonisten sich nur gebückt bewegen können oder an der Außenseite herumklettern müssen. Dieser Bühnenbau darf als Anklang an die Mietskaserne verstanden werden, in der Hauptmann seine Durchleuchtung einer hinter wilhelminischem Glanz schon zerfallenden Gesellschaft angesiedelt hatte. Das Mobiliar in den Regaletagen ist auf Kinder zugeschnitten – oder eben auf jene lebensgroßen Kinderpuppen/-marionetten, die in der Mainzer Inszenierung eine tragende Rolle spielen.

Der dreistündige Abend beginnt mit einer rührenden Szene, in der Frau John dem Publikum ihr früh verstorbenes Söhnchen vorstellt: eine reizende Marionette, die Puppenbauer und -spieler Michael Pietsch vom Schnürboden aus an Fäden zum Leben erweckt. Wir begreifen bald, dass die Puppe Gestalt gewordener Ausdruck von Frau Johns schmerzhafter Erinnerung an das verlorene Kind ist. Wir begreifen nachher, dass ein Dutzend weitere Puppen im Spiel jeweils kindliches Alter ego der realen Menschen im Regal sind – Seelenaspekte Erwachsener, in denen Drangsal der einst eigenen Kindheit nachwirkt.

Beispiele: Wie Pastorensohn Spitta (Matthias Lamp) als Knabe vom Vater mit Klavierunterricht traktiert wurde, so quält er nun selbst die ihm zugehöre Puppe am Piano. Wie Transvestit Alice als Kind von der Mutter das Spielen mit Puppen ausgeprügelt wurde, demonstriert nun David Schellenberg an „seiner” Marionette. Ein Faszinosum der Inszenierung ist, dass die Kindermarionetten durch szenische Verdichtung im Raum Zug um Zug ihre Niedlichkeit verlieren und schließlich nach Stephen-King-Manier als gespenstisch drohende Schuldmetapher der Erwachsenenwelt zu Leibe rücken.

Waren bei Hauptmann primär soziale Verwerfungen seiner Zeit Gegenstand der Betrachtung, so hebt Gockels Deutung im Kern auf psychologische Phänomene ab und dreht die Perspektive teils sogar auf einen Blickwinkel aus Kindessicht. Beklemmende Intensität entfaltet insbesondere Anika Baumanns Entwicklung der Frau John von einer gestandenen Mutter Courage zum von panischen Traumata zerfressenen Wrack. Der ungewollt schwanger gewordenen Pauline (schrill: Ulrike Beerbaum) schwatzt sie deren Neugeborenes ab, präsentiert es ihrem dann stolzen Mann (wuchtige, nachher dumpf brütende Arbeiterfigur: Johannes Schmid) als eigenes Kind – und sieht selbst darin die Wiedergeburt ihres toten Sohnes.

Doch Pauline fordert den Knaben bald zurück, weshalb Frau John ihr erst einen schwindsüchtigen Nachbarssäugling unterschieben will, sie schließlich von ihrem Bruder ermorden lässt. Mainz interpretiert diesen Mord als Verdrängungsfantasie der Frau John für eine  Tat, die sie selbst begeht. Überhaupt werden bei dieser Figur die im Abendverlauf bald allenthalben um sich greifenden Grenzauflösungen zwischen realen Außen und seelischem Innen am weitesten vorangetrieben.

Gerät bei diesem Verfahren das – auch in Mainz sprachlich breit berlinernde –  Stück Hauptmanns nicht vollends unter die Räder? Interessanterweise: nein. Das spätnaturalistische Werk trägt bereits so viel urbanen Expressionismus in sich, dass „Die Ratten” eine solch modern psychologisierende Fortschreibung durchaus hergeben. Etwas irritierend fällt in diesem Umfeld Gockels Ausformung der vergnüglichen Nebenhandlung um Theaterdirektor Hassenreuther nebst Turtelei zwischen dessen Tochter und Spitta aus. Da lässt die Regie den Schauspielern jede Menge Luft, komödiantisches Talent bis zur boulevardesken Überdrehtheit auszuspielen. Vor allem Murat Yeginer macht als Direktor davon reichlich und sehr versiert Gebrauch.

Ob aber ein derart radikal zusgespitzter Gegensatz zwischen tragischen und komischen Stückteilen sein muss, darüber ließe sich streiten. Dass hingegen die Protagonisten sämtlich – Menschen wie Puppen – als totes Theatermaterial bis zu ihrem jeweiligen Auftritt in Hassenreuthers Fundus unterm Dach lagern, ist eine raffinierte Idee im weithin ebenso gescheiten wie kunstvoll gewirkten und gespielten Verweisgeflecht der zurecht kräftig beklatschten Gockel'schen Inszenierung.

Andreas Pecht

Weitere, im Text nicht namentlich genannte Mitwirkende:
Andrea Quirbach (Theres), Leonie Schulz (Walburga), Anna Steffens (Frau Knobbe), Lilith Häßle (Selma), Sebastian Brandes (Quaquaro); Sophie du Vinage (Kostüme), Matthias Grübel (Musik).

Infos: >>www.staatstheater-mainz.com


(Erstabdruck/-veröffentlichung einer etwas kürzeren Textfassung außerhalb dieser website
am 02. März 2015)


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