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2014-08-02 Essay:

Zum 30. Geburtstag der E-Mail
 

Schnelligkeit und Kürze dominieren  die Kommunikation
 
 
hi! erinnerung: e-mail wird 30. best erfindung ever. früher megalahm, 4 – 6 tage bis antwort. heute hin-rück subito. traumhaft für briefen. oder etwa nicht? LG

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Es war einer jener großen Irrtümer in den Kindertagen des Internets: anzunehmen, Brief und e-Mail seien das gleiche, nur äußerlich verschieden und über unterschiedliche Wege transportiert. Ein Wort ist ein Wort, ein Satz ein Satz, und viele davon ergeben einen Brief. Auf den Inhalt kommt es an und für den ist gleichgültig, ob er mit Füller zu Papier gebracht, mit Schreibmaschine auf selbiges gehackt wird oder via PC-Tastatur elektronische Form annimmt. Dies war der Gedanke. Dass sich mit der e-Mail die gesamte Kommunikationsweise, ja die Schriftsprache selbst verändern könnte, darauf kam anfangs kaum jemand.

Immerhin wurde rasch deutlich: Für noch in der mechanischen Epoche aufgewachsene Briefschreiber – also vor 1984 in die Schriftsprache eingeführte Zeitgenossen – war die Möglichkeit zur nachträglichen und spurenlosen Textbearbeitung eine Revolution. Mit ihr hatte die Mühsal des Vorformulierens im Kopf oder auf Manuskriptzetteln ein Ende. Denn bis dahin galt: Was du zu Papier gebracht hast, das steht dann da fast wie in Stein gemeißelt.

Schreibfehler, Denkfehler, verquere Sätze, unpassende Worte, peinliche Ausdrücke, sich vergaloppierendes Liebesgeflüster waren schwer zu tilgen. Es gab vier Möglichkeiten, allesamt unbefriedigend: das Geschriebene lassen wie es ist und sich blamieren; den Text wegwerfen und neu anfangen; Unerwünschtes mittels wildem Durchstreichen unkenntlich machen oder mit Radiergummi respektive Tipp-Ex ausmerzen. Die beiden letzteren Techniken hinterließen selbst auf bestem Papier hässliche Spuren. Das machte bei Geschäfts- oder Bewerbungsanschreiben ungünstigen Eindruck, führte bei privaten Briefen zu munterem Spekulieren, was dem Verfasser ursprünglich in den Sinn gekommen sein könnte.

Um all dies zu vermeiden galt damals für das Briefeschreiben der Grundsatz: erst denken, dann hinschreiben. Jedes Wort wollte vorab wohl erwogen sein. Schreiben war im Grunde ein langsamer, konzentrierter Vorgang. Flog die Feder doch mal übers Papier oder klapperte die alte Olympia wie rasend, dann war entweder ein seiner Gedanken und Sprache sehr sicherer Schreiber am Werk oder einer, dem es wegen Überdruck in Hirn und Herz auf Feinheiten nicht ankam.

Wie anders ist das Schreiben seit 1984 geworden. Fast lässt sich – auch mit scheelem Blick auf die eigene Praxis – als neuer Grundsatz dingfest machen: hau erstmal in die Tasten, denken und feinschleifen kannst du hinterher. Allerdings müssen wir feststellen, dass das „Hinterher” inzwischen oft auf der Strecke bleibt. Das hat zu tun mit der zweiten revolutionären Eigenschaft der e-Mail-Technik: die zeitlose Überwindung der räumlichen Entfernung zwischen dem Verfasser eines Briefes und dessen Empfänger. Jeder kennt das Phänomen, dass man auf seine e-Mail adhoc Antwort erwartet. Und je rascher die kommt, umso größer der Druck, die Korrespondenz in noch höherem Tempo fortzusetzen.

Schnelligkeit beim Schreiben ist dominanter Maßstab des e-Mail-Verkehrs. Es bedarf einiger Widerständigkeit, sich diesem Kollektivzwang zu entziehen. Neben die räumliche Entfernung zwischen den Briefpartnern hatte früher der Postweg zusätzlich eine zeitliche Distanz gelegt. Mit ein oder zwei Tagen musste man rechnen, bis der eingeworfene Brief beim anderen ankommt. Ein bis zwei Tage musste man ihm/ihr lassen, eine Antwort zu schreiben, und noch einmal so lange dauerte es, bis der Postbote sie brachte. Das konnten Tage fiebriger Befürchtung oder Vorfreude sein, Tage des Grübelns „habe ich mich richtig ausgedrückt?”. Briefkorrespondenz war eine langsame Verständigungsform, sie brauchte per se Zeit, Geduld, Überlegung. Wer sich im Privaten darauf einließ, dem musste das Gegenüber schon allerhand wert sein – zumal briefliche   Kommunikation seit Erfindung des Telefons etwas Besonderes geworden war.

Die Tempoforderung der e-Mail und ihr Aufstieg zur Regelform schriftlicher Kommunikation hat während drei Jahrzehnten Schreiben und Schriftsprache spürbar verändert. Dieser Prozess hält an, vertieft sich noch unter dem Einfluss jüngerer Kanäle wie SMS oder Twitter. Was einmal Brief war, ist zu einem Zwischending aus Postkarte, Telegramm, Zuruf und Telefonatersatz geworden. Die heute üblichen Anreden in e-Mails wie „hallo”, „hi”, „moin”, „tach” signalisieren, neben dem Trend zur Verkürzung, eine Tendenz zur Auflösung der alten Unterscheidung zwischen Schriftsprache und mündlicher Umgangssprache. Ähnlich die abschließenden Grußformeln von „mfg” (mit freundlichen Grüßen) über „LG” (liebe Grüße) oder „bss” (vom spanischen Besos: Küsschen) bis zu launigen Zuneigungsausdrücken a la „umärmel”, „knutsch”, „drück”.

Zudem hat sich in den letzten Jahren die Vielfalt der Ausdrucksweisen enorm erweitert durch  Öffnung für regionale Dialekte sowie Soziolekte diverser Milieus. Wenn ein kulturelles Phänomen wie etwa die gegenwärtige Massenbegeisterung für „Prollcomedy” neue Elemente in die mündliche Umgangssprache einführt, kann das im multimedialen Zeitalter für die Schriftsprache nicht folgenlos bleiben.    

Der Zug zu Verkürzung und Beschleunigung ist auch im e-Mail-Text selbst signifikant. Oft spart man sich die Unterscheidung von Groß- und Kleinschreibung, reduziert Sätze auf Rumpfparolen,  ersetzt Stimmungsbeschreibungen oder Meinungsäußerungen durch Inflektive und wortlose Emoticons. Inflektive sind meist dem Comic entlehnte Verb-Reduktionen wie „gähn”, „grübel”, „seufz”. Das bekannteste Emoticon ist der gelbe Smily mit seinen Gefühlsausdrücken vom Grins-  bis zum Zorngesicht.

Nach 30 Jahren e-Mail-Praxis mag man Dekultivierung der Schriftsprache bedauern oder deren Entkrampfung begrüßen. Klar ist: Wie zu allen Zeiten, orientiert sich auch heute die Entwicklung der Sprache letztlich an den Veränderungen der Realität. Dass das in der mulitmedialen Moderne schneller geht, unübersichtlicher und unverbindlicher abläuft als je zuvor, liegt in der Natur der Sache. Die beinhaltet aber auch positive Elemente, etwa frei-kreatives Spiel mit den wunderbaren Potenzialen von Sprache. Und sei es bisweilen wieder der handschriftliche oder sogar gepflegt elektronische Rückgriff auf die alte, hohe, sorgsam wägende Kunst des Briefeschreibens – als Ausdruck besonderer Wertschätzung für einen Mitmenschen.  
                                                                                      Andreas Pecht


(Erstabdruck/-veröffentlichung außerhalb dieser website
am 2. August 2014)


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