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2014-06-02a Ballettkritik:

Tanztheater Wuppertal gastierte mit „Vollmond” von Pina Bausch in Wiesbaden

Ein Sommernachtstanztraum zwischen Turtelei und Wasserschlacht


 
ape. Wuppertal/Wiesbaden. Das Große Haus des Wiesbadener Staatstheaters für drei Gastspielabende restlos ausverkauft. Vor dem Eingang noch etliche Leute, die auf frei gewordene Karten hoffen. Und am Ende der Vorstellungen katapulieren Beeindruckung und Dankbarkeit das Publikum aus den Sitzen zu Standing Ovations. So geht das nun seit Jahren allüberall, wo das Tanztheater Wuppertal auftritt. Der Ansturm gilt den Stücken einer Choreographin, die schon zu Lebzeiten Legende war und seit ihrem Tod 2009 schierer Mythos geworden ist: Pina Bausch. Zum Abschluss der diesjährigen Maifestspiele in Wiesbaden kam mit „Vollmond” eines ihrer späten Werke zur Aufführung. 2006 entstanden, avancierte es binnen kürzester Zeit zum Klassiker des zeitgenössischen Tanztheaters – wie über die vier Jahrzehnte zuvor schon „Frühlingsopfer”, „Café Müller”, „Kontakthof”, „Nelken”,  „Viktor” und andere Bausch-Kreationen.
 

„Vollmond” ist ein Stück, in dem das Lebenselixier Wasser eine Hauptrolle spielt. Besser gesagt: Wasser ist der Katalysator, der Sinnen, Trachten, Sehnen der zwölf  Tanzprotagonisten zu einer Kettenreaktion vielfältig sprudelnder Lebensäußerungen anregt. Ein Albtraum für die Technik, ein Traum für Choreographie und Zuseher: In die hintere Bühnenhälfte ist auf Bodenniveau eine Wasserfläche eingelassen, aus der ein mächtiger Fels ragt. Unter mal goldenem, mal fahlem Licht entwickelt sich vor, in und über dem See ein Kaleidoskop mannigfacher Kurzszenen zwischen Melancholie und Lust, federleichter Verspieltheit und tobendem Überschwang, etwas Gedankenschwere und reichlich verschmitzter Humorigkeit.

Wäre der Ausdruck nicht so abgedroschen, man möchte „Lebenslust pur!” ausrufen. Es wird viel geküsst in dieser Vollmondnacht. Meist fordern die Frauen Küsse ein oder treiben Männer küssend vor sich her oder lassen Männerküsse schnippisch an sich abperlen. Eine ruft zwei Herrn zum Wettbewerb, wer ihr den BH am schnellsten öffne. Eine andere sitzt vornehm auf dem Stuhl und lässt sich vom Manne Wasser ins Weinglas schenken – der gießt und gießt bis das Maß übervoll ist und die Dame klitschenass. Compagnieseniorin Nazareth Panadero flaniert gelegentlich philosophierend durch die Szenerie. Eine der Fragen, die sie aufwirft, geht so: „Was ist besser – eine große Liebe mit allem Drum und Dran auf einen Schlag oder ein bisschen Liebe jeden Tag?”

Den Männern sind die anstrengenden und gefährlichen Parts zugeteilt. Sie schleppen Wasser, um den Felsen zu benetzen, kraxeln hinauf, um hinunterspringen. Sie müssen mit akrobatischen Hindernisläufen oder mutwilligen Stockgefechten imponieren, müssen entfesselte oder in selbstvergessenen Solotänzen die Orientierung verlierende Frauen auffangen, ausrichten, forttragen. Dazu stürzen immerfort Regenschauer vom Bühnenhimmel. Was indes niemanden verdrießt, sondern diesen Sommernachtstanztraum nur weiter mit Sinnlichkeit und Ausgelassenheit auflädt – bis die Choreographie final zu einer herrlich anarchischen Wasserschlacht ausufert.

Mit „Vollmond” ist Pina Bausch einmal mehr ganz nah am Menschen, an seinem Fühlen, Erfragen, Wahrnehmen, Auskosten selbst von scheinbar absurden Kleinigkeiten des Lebens – die sich zum intensiven, ja poetischen Erleben verdichten.  Diese Kunst ist ein Kontrast zur allgemeinen Stumpfheit, ein den Zuseher für den Moment beglückendes Mittel dagegen. Und tänzerische Form dazu ist die Weiterentwicklung des aus dem menschlichen Bewegungsrepertoire adaptieren freien Ausdruckstanzes des frühen 20. Jahrhunderts. Trotz aller Virtuosität und Kunstfertigkeit sind die Wuppertaler Akteure nie ballettöse Kunstwesen, sondern stets den natürlichen Wurzeln des Tanzens als urmenschlicher Ausdrucksform verbunden.

Auch das macht den Erfolg und die Bedeutung von Pina Bausch' Schaffen aus – dessen Anziehungskraft fünf Jahre nach dem Tod der Choreographin ungebrochen anhält und wohl noch eine ganze Weile anhalten wird. Gleichwohl ist die Diskussion darüber, was mit dieser Compagnie künftig geschehen soll, unaufschiebbar. Sollen neue Choreographen, den liegen gebliebenen Faden aufnehmen und auf andere Weise weiterspinnen? Es wird wohl früher oder später so kommen müssen, denn keiner lebendigen Künstlergemeinschaft darf man die Funktion des bloß musealen Erbwalters aufzwingen. Zumal der Anteil neuer, junger Mittänzer, die nie mit Pina Bausch persönlich gearbeitet haben, stetig zunimmt. 

Andreas Pecht                 


(Erstabdruck/-veröffentlichung außerhalb dieser website
am 3. Juni 2014)


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