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2013-12-20a Archäologie:

Die „Frauen von Gönnersdorf“
 

Eiszeitliche Kunst am Mittelrhein

Archäologischer Schatz belegt bemerkenswerte Frühkultur vor 15 000 Jahren

 


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Anfang der 1970er tauchte in der Literatur zur Archäologie der späten Eiszeit der Begriff „Frauenfiguren vom Typ Gönnersdorf“ auf. Er wurde in der Folge ein international gebräuchlicher Terminus. Bezeichnet werden damit vom prähistorischen Homo sapiens aus Elfenbein, Knochen, Horn geschnitzte oder in Stein- und Schieferplatten geritzte Frauendarstellungen eines ganz bestimmten Stils: Der weibliche Körper wird überwiegend im Profil ohne Kopf und Füße gezeigt; aus dem langen und oft stabförmigen Corpus ragt ein überproportional mächtiges Gesäß in Halbrund- respektive Dreiecksform heraus; die Brüste sind meist nur als kleine Ausbuchtung angedeutet. In ihrer starken Schematisierung und formalen Reduktion wirken die Ritzzeichnungen, mehr noch die nur wenige Zentimeter großen Statuetten wie stilisierte Symbole des Weiblichen – und erinnern beinahe an moderne Kunst.

Neben ihrer erstaunlichen Ästhetik ist das räumliche und zeitliche Auftauchen der Figuren vom Typ Gönnersdorf von besonderem Interesse. Die archäologische Forschung förderte nach gleicher Art schematisierte Frauendarstellungen bislang an mehr als zwei Dutzend Fundplätzen von Südfrankreich über das Rheinland und Ostdeutschland bis in die Ukraine zutage. Und allesamt lassen sie sich einer jungpaläolithischen Spätepoche mit dem schönen Namen Magdalénien zuordnen. Benannt nach dem uralten Siedlungsplatz La Madelein in Frankreich, umfasst das Magdalénien die Zeit von 18 000 bis etwa 12 000 vor Christus. Darstellungen des Typs Gönnersdorf tauchten im 14./13. Jahrtausend v. Chr. beinahe zeitgleich an vielen Stellen quer durch Europa auf. Mit ihrem hohen Niveau der Abstraktion unterscheiden sich diese Frauenfiguren grundlegend von den demonstrativ wohlgenährten, quasi-naturalistischen Fruchtbarkeitsmatronen (z.B. Venus von Willendorf) der vorausgegangenen 10 000 Jahre.

Steinzeitlicher Kulturaustausch
quer durch Europa

War das Ausdruck eines Kulturumbruchs, eines neuen Frauenideals oder nur eine neue Mode, was sich da mit der Gönnersdorf-Ästhetik im Magdalénien-Europa Bahn brach? Viele Fragen sind bis heute offen. Etwa: Welche Funktion hatten die Statuetten und Ritzbilder damals. Oder: Warum sind nur Frauen dargestellt und keine Männer? Unter den Gewissheiten aber finden sich auch für den historischen Laien zwei bemerkenswerte Erkenntnisse. Erstens: Diese späteiszeitlichen Jäger und Sammler standen offenkundig über gewaltige Entfernungen hinweg in kulturellem Austausch miteinander. Dies ist umso bemerkenswerter, als die winzige menschliche Population jener Zeit sich in den Weiten Europas fast verlor. Wissenschaftler rechnen etwa die damalige Bevölkerung im Gesamtgebiet des heutigen Deutschland auf nur 4000 Köpfe. Zweitens: Abstraktionsgrad und ästhetisches Niveau der Frauendarstellungen belegen die bereits eindeutig künstlerische Auseinandersetzung jener Menschen mit ihrer Lebenswelt.

Wie nun kam es zur Bezeichnung „Typ Gönnersdorf“? Diese Frage führt an den Mittelrhein und zunächst zur archäologischen Dauerausstellung des Landesmuseums Koblenz in der Festung Ehrenbreitstein. Die Ausstellung – 2013 wurde ihr zehnjähriges Bestehen gefeiert – präsentiert eine Auswahl bedeutender archäologischer Funde im nördlichen Rheinland-Pfalz seit Schaffung des Bundeslandes 1946. Damals ging die Verantwortung für die archäologischen Belange der Region vom Rheinischen Provinzial Museum Bonn als Fachinstitution der vordem Preußischen Rheinlande über an das neue rheinland-pfälzische Landesamt für archäologische Denkmalpflege und dessen Koblenzer Außenstelle (heute Direktion Landesarchäologie innerhalb der Generaldirektion Kulturelles Erbe Rheinland-Pfalz). Die 2003 eingerichtete Dauerausstellung versammelt hochwertige Artefakte vom ersten Auftauchen einer Homo-Spezies (erectus, heidelbergensis) in Deutschland am Mittelrhein vor rund einer Millionen Jahre bis zum Beginn der Neuzeit vor etwa 500 Jahren.

Beim Rundgang durch die Präsentation stößt man in der frühgeschichtlichen Abteilung bald auf einige besonders schöne Exemplare von Frauendarstellungen des Typs Gönnersdorf. So etwa eine europaweit solitäre Schiefergravur, die vier Frauen aufreiht, von denen die dritte eine Kindertrage auf dem Rücken mitführt. Daneben einige der „Gönnersdorfer“ Frauenstatuetten: Sorgsam aus Mammutelfenbein geschnitzt und poliert, beeindrucken sie durch ihre schlichte, gradlinige Eleganz. Experimente haben ergeben, dass die Herstellung einer solchen Schnitzskulptur etliche Stunden Arbeit in Anspruch nimmt. Was dafür spricht, dass die betreffenden Gemeinschaften der Magdalénien-Epoche nicht nur ein ausgeprägtes Bedürfnis nach Kunst hatten, sondern auch die Zeit dafür erübrigen konnten. Also dürften sie recht effektive Jäger und Sammler in einem gut organisierten Kollektiv mit entwickelter Arbeitsteilung gewesen sein.

Wichtige Siedlungsplätze an den Hängen
des Neuwieder Beckens

Entdeckt hatte man einen Großteil dieser Artefakte bei acht archäologischen Grabungskampagnen zwischen 1968 und 1976 im rechtsrheinischen Gönnersdorf, einem heutigen Stadtteil von Neuwied. Grabungsleiter war der Prähistoriker Gerhard Bosinski, nachher Professor für Ur- und Frühgeschichte an der Universität Köln, Chef des Fachbereichs Altsteinzeit beim Römisch-Germanischen Zentralmuseum Mainz sowie Leiter des Museums der Archäologie des Eiszeitalters in Schloss Monrepos. Bosinksi gilt als eine der maßgeblichen Kräfte für die Steinzeitforschung am Mittelrhein in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Er war es auch, der den Begriff „Typ Gönnersdorf“ für die Venusfiguren des Magdalenien allgemein etabliert hat. Möglich wurde das durch die außerordentliche Qualität und große Anzahl der Artefakte aus Gönnersdorf sowie von einer weiteren Fundstelle am gegenüberliegenden Rheinufer, dem Martinsberg bei Andernach.

16 Frauenfigurinen und gut 400 in Schieferplatten eingravierte Frauenbilder stammen aus den Grabungen in Gönnersdorf, 20 Schieferbilder und 24 Statuetten aus Andernach. Damit sind an diesen beiden Siedlungsplätzen mehr Frauendarstellungen entdeckt und gesichert worden als an sämtlichen anderen Fundstellen des europäischen Magdalénien zusammen. Zudem stellen diese Bildnisse nur die Spitze einer breiten Palette weiterer spektakulärer Funde dort dar. Dazu gehören Ritzzeichnungen von mystischen Fantasiewesen sowie realistische, enorm detailgenaue Abbildungen der Tierwelt. Das Spektrum reicht dabei von den seinerzeit wichtigsten Jagdtieren in der Region wie Pferd, Rentier, Eisfuchs, Vögel und Fische bis zu den bereits im Aussterben begriffenen Mammuts oder Wollnashörnern.

Zu den Funden gehören ferner bemerkenswert feine Schmuckstücke: Ketten und Anhänger aus sorgfältig bearbeiteten Tierzähnen, versteinertem Holz (Gagat) oder Schneckenhäusern vom Mittelmeer (!). Teils vom Ort selbst, teils aber auch von weit her kamen die Gesteine, aus denen das bemerkenswerte Sortiment mechanischer Spezialwerkzeuge besteht, die in Andernach und Gönnersdorf ergraben wurden. Sie sind Teil einer gewaltigen Menge steinerner Artefakte; allein aus Gönnersdorf stammen 81 000. All dies lässt den Schluss zu, dass es sich bei den Fundstellen um intensiv genutzte, wichtige Siedlungsplätze des Magdalénien handelte.

Andernach/Gönnersdorf: Begegnungsort
in einer fast menschenleeren Welt

Das Gesamtbild, das die Archäologen heute zeichnen können, widerspricht der Vorstellung von den frühen Menschen als isolierte Kleingruppen fast noch animalischer Wilder. So etwa war es vor 15000 Jahren: Die  Mittelrhein-Region ist eine trocken-kalte Tundra-Landschaft, der Untergrund noch ganzjährig in Permafrost erstarrt, bewachsen mit Steppengräsern und Buschwerk, Bäume gibt es kaum. Erst schlagen 15 bis 25 Individuen starke magdalénische Gemeinschaften mit Kind und Kegel in der geschützten Sattellage des Andernacher Martinsberges alljährlich für mehrere Monate ihr Lager auf.  Bei späteren Wanderungen bevorzugen sie dann Gönnersdorf, bauen dort ihre steilwandigen Rundhütten aus Tierhäuten über einer Holzkonstruktion auf.

Drinnen gibt es meist zwei Feuerstellen, über denen sie grillen und in denen sie Steine erhitzen, mittels derer in speziell bearbeiteten Tierhautbeuteln Speisen gekocht (!) werden. Der Fußboden ist mit Schieferplatten ausgelegt, die Innenwände sind mit Hämatit-Rot geschmückt. Von diesen Heimstätten aus bejagen die Menschen die Region in weitem Umkreis, bevor sie für die übrige Zeit des Jahres in ein anderes, ihnen angestammtes Siedlungsgebiet wechseln.

Die archäologischen Funde bezeugen: Es kommt nicht nur eine Gruppe hierher, sondern es treffen sich regelmäßig mehrere, die aus drei verschiedenen Richtungen und weit über 100 Kilometern Entfernung zu den Hängen des Neuwieder Beckens ziehen. Sie kommen aus dem Maasgebiet, vom Niederrhein und aus der Mainzer Gegend, um hier einige Zeit Seite an Seite zu leben. Sie bringen mit, was sie dort selbst und von noch ferneren Nachbarn an Gütern, Fertigkeiten und Wissen erworben haben – um zu tauschen und sich austauschen, um Geschlechtspartner aus anderen Sippen zu finden oder um einfach mal andere Gesichter zu sehen als immer nur diejenigen des eigenen kleinen Clans. Das Bedürfnis nach  Begegnung muss sehr stark ausgeprägt gewesen sein in einer beinahe menschenleeren Welt.

So wurde Andernach/Gönnersdorf im Magdalénien zu einem Knotenpunkt steinzeitlicher Begegnung und Kommunikation für einen Umkreis von gut 200 Kilometern. Einem Knotenpunkt, der 15 000 Jahre vor unserer Zeit über die Wanderungen der Menschen vernetzt war mit halb Europa – wie die kunstvollen „Frauen von Gönnersdorf“ und ihre gleichartigen Genossinnen anderwärts beweisen.                                 Andreas Pecht



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