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2013-06-10 Schauspielkritik:

Dürrenmatts "Die Physiker" in Wiesbaden arg boulevardesk. Regie: Hans-Ulrich Becker

Die Welt wird in einer Spaßflut ertränkt

 
ape. Wiesbaden. Das Interessanteste an der Inszenierung von Friedrich Dürrenmatts „Die Physiker“ jetzt am Staatstheater Wiesbaden ist der Schluss: Die irre Irrenärztin Zahnd (Monika Kroll) lässt die drei Titelfiguren mit farbigen Plastikbällen ersäufen. Könnte meinen: Dank der beim Physiker Möbius gestohlenen „Formel aller denkbaren Erfindungen“ stürzt sie die Welt  mit einer Flut aus kunterbuntem Waren- und Spaß-Tinnef ins Verderben.
 

Das ist eine legitime wie gescheite Neudeutung der 1962 vor dem Hintergrund des atomaren Ost-West-Konfliktes uraufgeführten Komödie. Die hat Regisseur Hans-Ulrich Becker auf 100 Spielminuten verkürzt und in der Umsetzung auf komische Effekte konzentriert. Insofern ist die Inszenierung selbst Beispiel der inkriminierten Spaßflut – ob mit Absicht oder nicht, sei dahingestellt.

Die Kategorisierung „Komödie“ stammt von Dürrenmatt selbst. Er glaubte, nur in dieser Form dem  Paradoxon gerecht zu werden: Je besser die Wissenschaftler der Gegenwart die Welt verstehen, umso gefährlicher die Anwendung ihrer Erkenntnisse für Mensch und Natur. Was sich in den 6oern vor allem auf die Atombombe bezog, lässt sich seither ausdehnen etwa auf Atomkraftwerke, Gen- und Klontechnik, Totalvernetzung oder computerisierten Börsenhandel.

Dieses Paradoxon erkennend und sich seiner Verantwortung stellend, taucht Möbius mitsamt  „Weltformel“ als vermeintlich Irrer im Irrenhaus unter. Dort wird er von zwei Mitpatienten umschlichen, die sich als Verrückte ausgeben: Einstein (Lars Welling) und Newton (Michael Günther Bard). Sie sind aber Agenten sind und wollen Möbius für ihre jeweilige Großmacht rekrutieren. Wer ist verrückt, wer normal? Wie können, sollen sich Wissenschaftlicher verhalten, deren Arbeit erkennbar das Potenzial zu mehr Wehe als Wohl für die Menschheit hat?

Solche Fragen lässt Dürrenmatt in seinem teils als Krimigroteske konstruierten Stück diskutieren. Weshalb die Komödie eine Tragikomödie ist. Doch Hans-Ulrich Becker mag sich auf die diskursiven Tragikkomponenten nicht wirklich einlassen. Wiesbaden greift tief in die Boulevardkiste, bevölkert die Bühne so reichlich mit Chargen und Lachbonmots, dass selbst vom spärlich verbleibenden ernsten Hintergrund kaum etwas mitbekommt, wer seine „Physiker“ nicht im Kopf hat.

Folglich heimsen die Clowns den meisten Beifall ein: Benjamin Krämer-Jenster als frustrierter Inspektor alter Krimischule; Wolfgang Böhm, der den Oberpfleger Sievers als vampiräugige Zombie-Gestalt nach Manier heutigen Horror-Entertainments gibt. In den Nebenrollen machen Jörg Zirnstein die Schwester Marta zur Travestienummer und Viola Pobitschka die Schwester Monika zum liebestollen Fräulein. Zwischen all dem – durchaus versierten – Boulevardspiel übersieht man fast die Leistung von Achim Buch: Sein ambivalenter Möbius ist die einzige Figur, in der das Dürrenmatt'sche Ringen zwischen Tragik und Groteske eine Spielfläche findet.                                        Andreas Pecht


Infos: >>www.staatstheater-wiesbaden.de


(Erstabdruck/-veröffentlichung außerhalb dieser website
am 08. Juni 2013)


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