Thema Gesellschaft / Zeitgeist
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2013-05-03 Essay:

 

Kindheit früher vs. Kindheit heute


Von freilaufenden Gassenkindern und
verhätschelten Plagen

 

ape. Kann man einem achtjährigen Kind zutrauen und zumuten, einen Schulweg von ein bis zwei Kilometern zu Fuß zu gehen; jeden Tag, bei jedem Wetter, hin und zurück? Bis in die 1970er hätte die Mehrheit der Deutschen wohl geantwortet: ja selbstverständlich. Heute indes werden viele junge Eltern schon bei der Vorstellung blass, ihr Liebling könnte alle Tage ein halbe Stunde ganz auf sich gestellt zur Schule unterwegs sein. Wenn möglich, bringen und holen sie die Kinder lieber mit dem Auto oder setzen sie zumindest in den Schulbus.


Innerhalb von 40 Jahren haben sich wesentliche Züge von Kindheit grundlegend verändert. Ob zum Besseren oder Schlechteren ist oft nicht zweifelsfrei feststellbar. Jede ältere Generation neigt zur Verklärung der eigenen Kinder- und Jugendjahre nach dem Motto „früher war alles besser“. Das ist menschlich, macht die Sache aber nicht richtiger. Früher war nicht alles besser, es war bloß vieles anders, etliches schlechter. Aber von einigen Gepflogenheiten der Altvorderen lässt sich vielleicht doch etwas lernen über und für die Gegenwart.

Bleiben wir beim Schulweg-Beispiel. Für die Jahrgänge vor etwa 1975 stand noch außer Frage: Man besucht Kindergarten und Grundschule im eigenen Ort oder Stadtteil. Nach einer kurzen, von Verwandten oder Nachbarn begleiteten Eingewöhnungsphase begibt man sich alltäglich unbeaufsichtigt dorthin. Die Jüngeren zu Fuß, von den Älteren einige mit dem Rad. Anderes war gar nicht denkbar. Selbst mancher Sechsjährige kam auf diese Weise zum Kindergarten, wie der Autor sich erinnert.

Zu Fuß ans andere Ende der Stadt

Zur Schule dann 30 Fußminuten ans andere Ende der Kleinstadt: steil bergauf, einen langen Treppenweg wieder hinab, über Bahn- und Flussbrücken nebst einer großen Bundesstraßenkreuzung, an Güterbahnhof und Friedhof vorbei. Das summierte sich jede Woche zu mehr als 20 Kilometern Gehen, Laufen, Hüpfen. Mediziner wären froh, würden Kinder heute wenigstens die Hälfte dessen als Bewegungsmaximum leisten, was damals nur Minimum war – bevor es am Nachmittag die Rasselbanden obendrein zu bewegungsintensiven Spielen aus dem Haus zog.


Aber die Gefahren heutzutage im Straßenverkehr! Einerseits ist dieser Einwand besorgter Eltern verständlich angesichts des explodierten Verkehrsaufkommens. Andererseits waren Gehwege nebst Straßenübergängen nie so gut ausgebaut wie jetzt. Die Unfallstatistik für Unter-15-Jährige zeigt: Seit den 1990ern verunglücken im Straßenverkehr mehr Kinder, die in PKWs mitfahren als zu Fuß gehen. 2011 standen 7545 verletzten Kinderfußgängern 10 340 verletzte PKW-Mitfahrer gleichen Alters gegenüber. Dass der Schulweg via elterlichem Fahrdienst verkehrssicherer sei als der auf eigenen Füßen, ist eine Illusion.


Hinzu kommen zwei ewig gültige Umstände. Erstens: Es kann die Gefahren seiner Lebenswelt nur meistern, wer sie kennt und früh gelernt hat, damit umzugehen. Zweitens: 100-prozentige Sicherheit kann es nie geben, und trotz Risikominimierung bleiben tragische Fälle Teil des Lebens. Mütter und Väter, die ihre Kinder vor allen denkbaren Unbilden behüten wollen, sind ebenso wenig eine Erfindung der Moderne wie das Ergebnis davon, die sprichwörtlich „verhätschelten Plagen“. Als Einzelerscheinung gab es sie schon immer. Allerdings kann man den Eindruck gewinnen, dass elterliches Bemühen um behütete und maximal kontrollierte Kindheit seit dem späten 20. Jahrhundert überhand genommen hat. 

Als wir noch unbeaufsichtigt spielen durften

Ein Rückblick auf außerschulisches Kinderleben ein bis zwei Generationen zuvor macht nachdenklich. Gewiss war der fußläufige Schulweg anstrengend, zeitaufwändig und bei Schlechtwetter ungemütlich. Zugleich aber war er ein Freiraum, den Kinder innerhalb eines gewissen Rahmens nach eigenem Willen gestalten konnten. Der Aufsicht und Anleitung durch Erwachsene entzogen, brachen sich unterwegs kreativer Spieltrieb, Abenteuer- und Entdeckerlust freie Bahn. In dieser Kinderwelt entfalteten sich spontan soziale Prozesse wie Freundschafts- und Cliquenbildung oder eben auch mal Krisen bis hin zum deftiger Streit. Eine außerschulische Schule fürs Leben.


Noch viel mehr galt das für die Nachmittagsfreizeit. Die meisten Sprösslinge waren da spätestens ab dem Schulalter als unbeaufsichtigte „Gassenkinder“ unterwegs. Nach den Hausaufgaben ging's bis zum Abend hinaus auf Straßen und Plätze, hinein in Parks oder Wald. Je älter umso größer der Bewegungsraum. Da wurde man dreckig, zerrissen Kleider; da vergaß man mal das rechtzeitige Heimkommen; da flossen manchmal Tränen oder gar ein paar Tropfen Blut.


Solche Nachmittage waren von elterlicher Kontrolle, von jedweder pädagogischen Einflussnahme befreite Zeitfenster. Räume, der Gestaltungskraft, Risikobereitschaft und Eigenverantwortung der Kinder ganz allein überlassen. Schlugen die mal über die Stränge, galt das Prinzip: Was ihr euch einbrockt, müsst ihr selbst auslöffeln; Schrammen, Frust, Schelte oder Strafe inklusive. Und die Kinder wussten das. 

Normative Zurichtung ganz freiwillig

„Wir hatten weder Playstation, Notebook, Videos, DVDs, iPod, iPhone noch eigene Fernseher oder Internet. Wir hatten Freunde.“ So heißt es in einer launigen Textpräsentation, die seit einiger Zeit in Wellen durchs Internet strömt. Darin werden mittels Beispielen robuster Kindheit vor 1975 vermeintliche Weicheier-Kindheiten nachheriger Jahrgänge auf die Schippe genommen. Danach hätten damalige Eltern ihren Sprösslingen mehr zugetraut, mehr vertraut als heutige. Damalige Kinder hätten sich mehr getraut, mehr einfallen lassen, mehr Verantwortung für sich und ihr Tun übernommen als heutige.


Mancher Vorwurf ist satirisch überzogen. Und doch zielt die Kritik im ernsten Kern auf einen wunden Punkt. Die 1960er/70er-Jahre waren vom Aufbegehren gegen die „normative Zurichtung des Individuums“ durch die autoritäre Väter-Gesellschaft geprägt. In den nachfolgenden vier Jahrzehnten hat eine andere, neue Art normativer Zurichtung um sich gegriffen, und zwar auf Basis eines allgemeinen freiwilligen Drängens: Kindheit (ja Leben generell) in allumfassender Sicherheit, Umsorgung, einklagbarer Regelung sowie ausgefüllt mit vorgestalteter Beschäftigung und Unterhaltung.


Kindes Sicherheit steht nun allemal über Kindes Freiheit, Risikoausschluss über Risikobewusstsein, von Erwachsenen gelenktes und überwachtes Spielen über wildwüchsig entfaltetem Spieltrieb in kindlicher Eigeninitiative. Die Entwicklung der Kommunikationstechnik und der Konsumstrukturen befeuert dieses Drängen noch. Vorbei die Zeit, als Rückmeldungen an die Eltern aus der nachmittäglich aushäusigen Freizeit der Kinder weder möglich waren noch erwartet wurden. Handy oder Smartphone sind jetzt immer dabei, Mama und Papa also jederzeit greifbar. Wie das Kind umgekehrt durch die Eltern auch – wenn die nicht sowieso via Fernortung jede halbe Stunde prüfen, wo der/die Kleine sich gerade aufhält. 

Kontrolle und Anleitung allüberall

Die Möglichkeit derartiger Kanäle kann in gewissen Situationen von Vorteil sein. Werden sie aber zur permanenten Standleitungen zwischen Erziehern und Zöglingen, dann geht den Kindern eine ihrer wichtigsten Lebenssphären verloren: Jener Freiraum, den sie allein auf sich gestellt gestalten und verantworten; in dem sie auf eigene Weise Welt erkunden und an sich reißen; wo sie sich an realen Herausforderungen der Umwelt und Mitkinder abarbeiten und daran in Glück wie auch unvermeidlichem Frust wachsen. In diesem Freiraum vor allem kann früh der Abnabelungsprozess vom elterlichen Nest einsetzen und der sprichwörtliche aufrechte Gang auf eigenen Füßen eingeübt werden.


Es ist müßig bis unlauter, heutige Kinder und Jugendliche als bequeme Nesthocker und unselbstständige Konsumfreaks abzustempeln. Denn vielfach handelt es sich um Gewohnheiten, die ihnen allzu fürsorgliche und/oder ehrgeizige Eltern von kleinauf antrainiert haben. Die Schließung unkontrollierter Freiräume fürs selbsttätige Kindesspiel draußen in der realen Welt und mit der realen Welt ist ein wesentliches Element dieses Negativtrainings. Wo die ganze Kindheit von Erwachsenen kontrollierte und animierte Spielstunde ist, da kann von älter werdenden Kindern nicht plötzlich erwartet werden, dass sie den Kükenflaum mir nichts, dir nichts abwerfen und sich mutig wie robust mit kräftigem Flügelschlag aus dem Nest stürzen.



Die besten Spielideen stecken im eigenen Kopf


Wenn heute Eltern, ja selbst Großeltern und Urgroßeltern vorexerzieren, dass etliche Stunden völlig passiven Fernsehkonsums täglich spannender zu sein scheinen als jedwede Aktivität, dann dürfen sich junge Netz- und Phone-Surfer im Vergleich dazu als regelrechte Aktivbolzen verstehen. Was allerdings beide übersehen oder verdrängen: Hier wie dort hat sich eine künstliche Wand zwischen die reale Lebenswelt und das Ich geschoben. Eine Wand, in die unzählige Schubladen eingelassen sind, prall gefüllt mit mehr oder minder sinnigen, in jedem Fall aber verführerischen Lockungen. Lockungen, die kindliche Gehirne mindestens ebenso faszinieren wie erwachsene.

Sich diese Wand wieder weg zu wünschen wäre zwecklose Rückwärtsgewandheit. Aber ihr nicht die Gestaltungshoheit des Ichs zu überlassen, das sollte möglich sein.


Dazu braucht es jedoch die in der Kindheit grundgelegte Erfahrung: Die besten Spielideen stecken in mir selbst. Und das Interessanteste ist es, die Hand von Mama und Papa mal loszulassen, mit wirklichen Freunden frei durch die wirkliche Welt von Stadt und Natur zu stromern, die Anstrengungen, Unwägbarkeiten, Ängste wirklicher Kinderabenteuer zu bestehen. Kein Videospiel und kein Fantasialand kann diesen Entwicklungsschritt in der Persönlichkeitsbildung ersetzen. Er bleibt einfach aus, wenn Eltern vor lauter liebender Sorge ihre Kinder in Watte packen und rund um die Uhr mit Animationsprogramm versorgen, sei es pädagogisch wertvoll oder bloß Geschäftemacherei mit modischem Cyber-Schnickschnack.

                                                                               Andreas Pecht



(Erstabdruck/-veröffentlichung außerhalb dieser website
am 3. und 4. Mai  2013)


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