Thema Ökonomie
Thema Politik / Gesellschaft
homezur Startseite eMail an Autor • eMail to author • contact auteureMail an den Autor Seitenübersicht • sitemap • Plan du siteÜbersicht sitemap Seite drucken • site print • imprimer siteArtikel drucken

2013-03-15 Analyse/Kommentar:

„Neues Proletariat“ ist eine tragende Säule der Moderne

 

Auch "einfache Arbeit" verdient
Respekt und ordentlichen Lohn

 
 
ape. Bildung ist zurecht der Schlüsselbegriff jeder Diskussion über Entwicklungsperspektiven des Einzelnen wie des ganzen Deutschland. In der „Wissensgesellschaft“ habe man ohne ordentliche Schul- und Berufsbildung kaum Chancen auf Teilhabe am bürgerlichen Lebensstandard. Dieser Befund ist der kleinste gemeinsame Nenner von linksaußen bis rechtsbürgerlich, von unternehmerfreundlich bis gewerkschaftsnah. Er gründet vielfach auf der Überzeugung, dass mit der Modernisierung der Wirtschaft die Nachfrage nach „einfacher Arbeit“ stetig abnehme.

Es gilt als quasi naturgesetzlich, dass hoch technologisierte Volkswirtschaften bald keine Verwendung mehr für Ungelernte, Geringqualifizierte, Zuarbeiter, Hilfskräfte hätten. Weil also die Nachfrage nach solchen Arbeitskräften schwinde, es aber noch immer ein großes Angebot davon gibt, kann aus marktliberaler Sicht ihre Entlohnung  nur sehr niedrig ausfallen. Aber stimmt überhaupt, was wir da heute als schiere Selbstverständlichkeit annehmen: Ist „einfache Arbeit“ hierzulande im Aussterben begriffen?

1994 waren 16 Prozent der Vollerwerbstätigen in Deutschland Niedriglöhner mit Stundensätzen überwiegend weit unter dem definierten Grenzwert (heute: 10,36 Euro brutto). Seither ist ihr Anteil nicht etwa gesunken, sondern auf 20 Prozent und damit sieben Millionen gestiegen. Da kommen zwei Phänomene zusammen. Erstens: Verfall des Lohnniveaus in traditionellen Berufen etwa infolge Neuordnung betrieblicher Entlohnungsstrukturen. Zweitens: Ausweitung herkömmlicher und Entstehen neuer Tätigkeitsfelder auf unterstem Lohnniveau im Zuge gesamtwirtschaftlichen Wandels.

Beispiele. Moderne Fastfood-Ketten haben ein völlig neues Arbeitsfeld für Abertausende von Niedriglöhnern geschaffen. Der boomende Internet-Handel „bereichert“ den Niedriglohnsektor um ein ständig wachsendes Heer schlecht bezahlter Lageristen, Sortierer, Packer, Fahrer. Obendrein allüberall die Folgen der Just-in-time-Ökonomie und des Outsourcing: Tätigkeiten, die früher in den Unternehmen selbst angesiedelt waren, werden an billige Fremdfirmen vergeben. In der Folge sind beispielsweise Transport- und Reinigungsgewerbe ungeheuer angewachsen, der Kostendruck dort und damit die Tendenz zur Niedriglöhnerei ebenfalls.

Die Reihe der Wirtschaftszweige, die zunehmend Niedriglohnkräfte einsetzen, lässt sich beliebig verlängern: Bau, Müllentsorgung, Nahrungsmittelindustrie, Taxigewerbe, Einzelhandel, Callcenter... Dazu kommt generell das weite Feld der Zeit- und Leiharbeit, mit der dort stark ausgeprägten Neigung zu Niedriglöhnen und zu „flexiblen“, sprich: unsicheren Beschäftigungsverhältnissen. Jede zweite neu zu besetzende Stelle ist heute zeitlich befristet – mit allen negativen Folgen für persönliche Lebensplanungen. Das trifft inzwischen jeden Bereich der Berufswelt, in besonderem Maße aber den expandierenden Niedriglohnsektor.

In summa: Tatsächlich macht die „einfache Arbeit“ keine Anstalten auszusterben. Vielmehr erleben wir am unteren Ende der Arbeitsbevölkerung gerade die Herausbildung einer neuen Arbeiterschicht, quasi eines sieben Millionen Köpfe zählenden „neuen Proletariats“ –  in prekäre Arbeitsverhältnisse geworfen, mannigfach zersplittert, gewerkschaftlich kaum organisiert, ohne kollektives Selbstbewusstsein, von der Politik wie von der bürgerlichen Mehrheitsgesellschaft geringgeschätzt. Diese Menschen sind, wie jüngst mehrfach enthüllt, teils Arbeitsbedingungen ausgesetzt, die an frühkapitalistische Ausbeutung und vordemokratische Knechtung erinnern.

Die verbreitete Herablassung der „Wissensgesellschaft“ gegenüber diesem Teil ihrer Arbeiterschaft entbehrt in der Sache jeglicher Grundlage. Denn von ihm werden vielfach besonders anstrengende, schmutzige oder zermürbende Tätigkeiten geleistet, ohne die unsere Volkswirtschaft in ihrer heutigen Form binnen weniger Tage zum Stillstand käme – und die im Einzelfall mindestens ebenso viel Lebenskraft verbrauchen wie der Job eines Managers. Nur dass ein Niedriglöhner in 25 Arbeitsjahren nicht verdient, was etwa Vorständler von Dax-Unternehmens pro Monat bekommen.

Die Kluft zwischen Unten und Oben hat zuletzt feudalistische Ausmaße angenommen und steht, wie in historischer Zeit, weder hier noch dort in einem angemessenen Verhältnis zur jeweiligen Arbeitsleistung. Im Klartext: Unten müssten die Einkommen gehörig steigen, oben deutlich sinken. Und: Es ist an der Zeit, dass die Gesellschaft wieder zu Wertschätzung und Respekt für die einfache, aber meist anstrengende Arbeit gelangt. Denn sie ist nach wie vor unverzichtbar für das Funktionieren von Wirtschaft und Gemeinwesen. Weshalb jemand sie machen muss – seien es geringqualifizierte Arbeitskräfte oder irgendwann vielleicht studierte. Ordentliche Entlohnung verdienen beide. 
                                                                                     Andreas Pecht

 

---------------------------------------------------------
Wer oder was ist www.pecht.info?
---------------------------------------------------------

 
Diesen Artikel weiterempfehlen was ist Ihnen dieser Artikel
und www.pecht.info wert?
 

eMail an Autor • eMail to author • contact auteureMail an den Autor
eMail an webmaster • eMail to webmaster • contact webmastereMail an webmaster Seitenanfang • go top • aller en-hautan den Anfang Seite drucken • site print • imprimer siteArtikel drucken