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2012-06-05 Schauspielkritik:

Ende der Gemütlichkeit für
"Drei Schwestern"
 

Am Staatstheater Wiesbaden übernimmt in Tschechows Klassiker Natalja das Regiment


 
ape. Wiesbaden. Zuerst reißen die drei Titeldarstellerinnen bühnenbreite Kinderfotos von sich selbst runter. Dahinter kommt Mobiliar aus dem letzten und vorletzten Jahrhundert zum Vorschein, in einen heutigen Rahmen aus Plastik und Neonlicht gequetscht, als harre es der Sperrmüllabfuhr. Die Startkulisse (Bühne: Mayke Hegger) gibt frühen Fingerzeig, wie Anton Tschechows „Drei Schwestern“ jetzt am Staatstheater Wiesbaden zu deuten ist: Als Ablösung, ja Zerschlagung einer zum Wandel unfähigen Lebensweise durch ein vitales wie eiskaltes neues Zeitalter.


Foto: Martin Kaufhold

Die Inszenierung von Markus Dietz (nicht zu verwechseln mit dem Koblenzer Intendanten Markus Dietze) entfernt sich für diese Lesart keineswegs vom 1901 uraufgeführten Stück. Sie dringt vielmehr – mit Hilfe von Thomas Brasch' famoser Übersetzung – zu Komponenten vor, die in manch pittoresker Einrichtung bisher unterbelichtet waren: Etwa zu einer galligen Komik, oder zu Elementen des Absurden nach fast Beckett'scher Art. Hier ist Schluss mit der gemütlichen Zeichnung einer liebenswert verschrobenen russischen Aristokratie, die Tschechow womöglich nie im Sinn hatte.

Sämtliche Altrussland-Folkore getilgt, das Personal nach Kostümen und Benimm in die Gegenwart versetzt, sehen wir was? Eine Sippschaft zwischen altreich und neubürgerlich, die nichts mit sich anzufangen weiß – deshalb ruhelos rotierend im Leerlauf aus Kurzweil-Bemühen, Verzweiflung am toten Status Quo und Sehnen danach, dass morgen alles anders werde.

Mascha (Verena Güntner) verursachen die Liebesbekundungen ihres großmäuligen Gatten Fjodor (Uwe Kraus) nur noch Übelkeit; begehrlich sucht sie etwas Lebensfreude in einer Liebschaft mit dem Offizier Werschinin (Michael Birnbaum). Den hat auch ihre ältere Schwester, die ruhige, sehr erwachsene Olga (Doreen Nixdorf) im Auge, traut sich aber nicht. Derweil flattert das schwesterliche Kücken Irina (Magdalena Höfner) in stets vergeblicher Hoffnung auf den Umzug „nach Moskau“ umher. Der Bruder der drei, Andrej (Michael Günter Bard), heiratet die geile Tussi Natalja.

Es ist diese Frau, mit der ein neuer Menschenschlag ins Haus kommt, dessen Tatkraft bald keinen Stein mehr auf dem andern lässt. Viola Pobitscha gibt die Natalja körperbetont in Strapsen als Mischung aus ordinärer Göre, überbesorgter Mutter und raffinierter Domina, die auf der Lethargie des Umfeldes ihre Herrschaft errichtet. Den drei Schwestern luchst sie erst die Zimmer, dann den ganzen Haushalt ab. Den Andrej macht sie zum Pantoffelhelden, den „nutzlosen“ alten Diener Ferapont (Zygmunt Apostol) setzt sie kaltschnäuzig vor die Tür. Und als kommandierende Antreiberin beim Bühnenumbau führt sie schließlich rücksichtloses Regiment über die ganze Welt.

So wird in Wiesbaden eine vermeintliche Nebenfigur zum interpretatorischen Angelpunkt einer sehr klugen Inszenierung, die zugleich reihum auf mit großem Ernst  unterschiedliche Individuen ausformendes Schauspielertheater setzt. Das sind ganz ausgezeichnete zweieinhalb Stunden – abzüglich nur jener  Minuten, in denen auch dieses Regieteam nicht von völlig überflüssiger Effekthascherei mittels Nebelmaschine und Kreischorgie lassen kann.                                        Andreas Pecht

Infos: www.staatstheater-wiesbaden.de


(Erstabdruck/-veröffentlichung außerhalb dieser website
am 11. Dezember Juni 2012)


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