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2012-04-22 Essay:

Der Breivik-Prozess wirft schwierige und
schmerzliche Fragen auf

 

Norwegen will sich treu bleiben

 
ape. Der Prozess gegen Anders Breivik hat weit über Norwegen hinaus Diskussionen über den Umgang des Rechtsstaats mit einem Massenmörder ausgelöst. Es geht im Kern um drei Fragen. Soll/muss das Gericht Tathergang und Tatmotive noch akribisch untersuchen, obwohl der Täter zweifelsfrei überführt ist, ja gestanden hat? Soll/muss dem Täter im Gerichtssaal die Möglichkeit gegeben werden, seine krude Weltanschauung auszubreiten? Soll/muss die Verhandlung durch breite Berichterstattung, gar TV-Übertragung vor aller Öffentlichkeit stattfinden, obwohl Breivik damit eine Bühne erhält?

              
Mediale und private Gesprächsrunden tun sich schwer mit forschen Festlegungen, denn man ahnt, dass es hier für manchen Aspekt eindeutig richtige oder falsche Positionen gar nicht geben kann. Vor dem Hintergrund des Massakers vom Juli 2011 wird die Diskussion überwiegend sehr ernsthaft   geführt. Natürlich erhebt sich auch der Ruf nach „kurzem Prozess“ und Todesstrafe. Doch bleibt dieser Reflex eine eher randständige Erscheinung. Das rührt nicht zuletzt von der Gefasstheit und bewundernswerten Reife, mit der das Gros der norwegischen Gesellschaft sich dem entsetzlichen Geschehen stellt.

Deutlich ist das Amtsgericht Oslo bemüht, den Fall in einem beispielhaft ordentlichen Verfahren zu verhandeln. Es soll kein Verdacht aufkommen, die Justiz ließe sich angesichts der Dimension des Verbrechens von Vorverurteilungen oder Rachegefühlen  leiten. Es soll kein Zweifel entstehen, dass auch Anders Breivik streng nach den Grundsätzen norwegischer Rechtsstaatlichkeit einen fairen Prozess erhält. Die Schwere der Tat wird im Urteil ihren Niederschlag finden, aber sie ist kein Grund, dem Angeklagten die normale Strafprozessordnung vorzuenthalten – oder zu ersparen.

Dahinter steckt eine Haltung, die in Norwegen seit dem Schreckens-Juli immer wieder zum Ausdruck kommt: Wir lassen es nicht zu, dass dieser Verbrecher unsere Lebensart und Werte unterminiert. Wir lassen uns von ihm nicht provozieren, unsere Freiheit einzuschränken. Wir lassen uns von seiner hasserfüllten Brutalität nicht dazu erniedrigen, nach Vergeltung mit gleicher Münze zu gieren. Dem Massenmörder einen rechtsstaatlichen, nota bene auch öffentlichen Prozess zu machen, ist demnach kein Zeichen von Schwäche oder libertärer Weichlichkeit. Es ist im Gegenteil gerade in dieser Zeit des Schmerzes Ausdruck der Stärke und Entschlossenheit einer ethisch hochstehenden Zivilkultur bei dem Fünf-Millionen-Volk, der größten Respekt verdient.

Diese Haltung führt freilich zu einem Dilemma: Dem Angeklagten erwächst aus dem  rechtsstaatlichen Verfahren jene Bühne, derentwegen er 77 Menschen getötet hat. Nun kann er seine Wahnbotschaft vom „Kreuzzug gegen die Islamisierung Europas“ in die Welt posaunen. Das norwegische Recht erlaubt sogar mediale Live-Übertragungen aus Gerichtssälen – was in Deutschland verboten ist, obwohl auch hier Gerichtsprozesse im Grundsatz öffentlich sind. Die Richterin in Oslo hatte immerhin für die Zeit von Breiviks Eingangserklärung ein Übertragungsverbot verhängt.

Es bleibt der umstrittene Umstand, dass der Massenmörder die übrige Verfahrenszeit als Forum im Fernsehen für sich nutzen kann. Die Sorge darüber ist ebenso berechtigt wie überhaupt die Sorge über die Aufmerksamkeit, die Breivik durch das gewaltige Medienecho zuteil wird. Die Befürchtung, das könnte Nachahmer motivieren, ist nicht von der Hand zu weisen. Aber was wäre die Alternative? Einschränkung der freien Presseberichterstattung?  Änderung des norwegischen Rechts in Richtung Redeverbot für Angeklagte und Verbot der Live-Übertragung aus Gerichtssälen? Gar  Abschaffung der Gerichtsöffentlichkeit, also Einführung von Geheimprozessen? Eine „Lex Breivik“, eine vom Täter erzwungene Aushöhlung der norwegischen Rechtskultur: Das wäre ein Triumph für den Terroristen und womöglich ein noch größerer Ansporn für Nachahmer.

Welche Verfahrensweise ist richtig, welche falsch? Eindeutige Antwort gibt es nicht. Norwegen hat sich entschieden, bei seiner traditionellen Offenheit zu bleiben. Das ist zu respektieren. Nun beschreitet das Gericht den für Überlebende des Massakers und Opferangehörige schmerzlichen Weg, den Tathergang in allen Einzelheiten zu erhellen, das Tatmotiv zu ergründen und den Geisteszustand des Angeklagten festzustellen. Dies ist Regel und Pflicht rechtsstaatlicher Gerichtsbarkeit. Dies ist zugleich Bedürfnis vieler Opferangehöriger. Die Psychologie weiß: Sie wollen Klarheit über die genauen Todesumstände ihrer Lieben. Denn Ungewissheit verstetigt ihre Qual, steht der Trauerarbeit im Wege.

Schließlich ist da die vage Hoffnung, der Prozess könnte Antwort finden auf das „Warum?“. Warum mussten Kinder, Geschwister, Freunde sterben? Vielleicht liegt in dieser Frage die Ursache, dass so viele Angehörige und Überlebende sich wünschen, das Gericht möge die Schuldfähigkeit Breiviks feststellen. Dadurch würde zwar der Tod der 77 nicht weniger sinnlos, aber sie wären Opfer eines Verbrechens, für das der verantwortliche Verbrecher bestraft wird. War das Massaker indes die Tat eines Geisteskranken, wären sie Opfer eines Unglücks, für das niemand verantwortlich ist. In beiden Fällen aber kann Breivik nach norwegischem Recht für den Rest seines Lebens weggesperrt werden, sei es in der Psychiatrie, sei es im Gefängnis.                                                     Andreas Pecht


(Erstabdruck 17. Woche im April 2012)

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