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2012-04-07a Konzerteinführung:

3. Orchesterkonzert im Görreshaus Koblenz 2011/2012. Mit Rheinischer Philharmonie unter Daniel Raiskin. Solisten: Ivan Monighetti (Cello), Klaudiusz Baran (Bajan),
Sprecher Jona Mues.
 
"Die sieben letzten Worte"

(Unkorrigiertes Vortragsmanuskript. Mündliche Ausführung teils abweichend)
 
ape. Meine sehr geehrten Damen und Herrn, liebe Musikfreunde,
seien Sie herzlich willkommen zum 3. Görreshauskonzert in dieser Spielzeit – zu einem ungewöhnlichen Konzert an einem ungewöhnlichen Tag.

              

Wir haben heute Karfreitag. Je nach Sichtweise unterschiedlicher christlicher Konfessionen ist das EINER der höchsten oder DER höchste Feiertag im Kirchenjahr.  An diesem Tag jährt sich im Glauben der Christenheit der Todestag Jesu. Also jener Tag, an dem der Mensch-gewordene Sohn Gottes auf Golgota den Leidenstod am Kreuz starb, um die Menschen zu erlösen.

Zwei völlig unterschiedliche musikalische Reflexionen dieses Ereignisses sind zentraler Gegenstand des heutigen Konzerts. Zu Beginn hören wir das Werk „Sieben letzte Worte“ der 1931 geborenen und heute bei Hamburg lebenden russischen Gegenwartskomponistin Sofia Gubaidulina. Beschlossen wird das Konzert mit der Komposition „Die sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuze“ von Joseph Haydn. Rund 200 Jahre Menschheitsgeschichte, auch 200 Jahre Geistes- und Musikentwicklung liegen zwischen diesen beiden Stücken.

Es wird deshalb einer der interessantesten Aspekte des heutigen Konzerts sein, zu hören und zu erleben, wie zwei durch eine solch lange Zeitspanne getrennte Komponisten mit demselben Sujet umgegangen sind. Denn beide Stücke sind vom selben religiösen Topos inspiriert, beziehen sich   auf dasselbe Ereignis, ja dieselben Worte: Die letzten sieben Ausrufe, die Jesus nach neutestamentarischer Überlieferung am Kreuz gemacht haben soll, bevor er starb. Lassen Sie mich deshalb etwas bei diesen aus mehreren Evangelien zusammengetragenen Ausrufen verweilen. Sie gehören zum kollektiven Kulturgedächtnis des Abendlandes, ganz gleichgültig, ob man nun gläubig ist oder nicht.

Ich werde mich jedoch hüten, eine Erklärung des christlichen  Karfreitagsmysteriums zu versuchen. Denn ich fände das für einen nichtreligiösen Menschen wie mich eher unpassend, außerdem ist  Bibelexegese nicht mein Fach. Andererseits bedarf es weder akadamischer Spezialbildung noch unbedingt religiöser Gläubigkeit, um die Tiefe und erschütternde Größe jener Worte zu empfinden, die Jesus unter unsäglichen Qualen sprach. Qualen, die er nach biblischem Verständnis ja wie ein Mensch erlitt.

Rufen wir uns die kurzen Sätze noch einmal ins Gedächtnis, von denen sich sowohl Joseph Haydn wie Sofia Gubaidulina zur ihrer Musik inspirieren ließen.
1.    „Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ Wut, Hass und Rachedurst wäre der zu erwartende Reflex eines Gequälten gegenüber denen, die ihn quälen. Doch Jesus hält sich auch jetzt in kompromissloser Konsequenz an die Versöhnungs- und Vergebensforderung seiner Bergpredigt „Liebet eure Feinde“.

2.     „Weib siehe, das ist dein Sohn – siehe, das ist deine Mutter“. Es gibt für diesen Satz theologische Interpretationen in Fülle. Doch kann einen auch schon der schlichte Gedanke tief bewegen, dass der Sterbende in Fürsorge für seine beiden Liebsten, Maria und  Johannes gegenseitigen Halt und Trost empfiehlt. So, als wären sie Mutter und Sohn.
3.    „Wahrlich ich sage dir: Heute noch wirst du mit mir ins Paradies einziehen.“ Dies sagt Jesus zum reuigen der beiden Verbrecher, die mit ihm nach römischem Recht durch Kreuzigung exekutiert werden. Ein Akt der Vergebung.
4.    /5. „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen.“ Für mich war schon als Kind dieser Ausruf in Verbindung mit dem nachfolgenden, ganz schlichten „Mich dürstet“ der erschütternste Moment der Sterbesequenz. Verlassen von aller Welt erscheint Jesus hier ganz auf sein Menschsein zurückgeworfen, zweifelt und verzweifelt wie jeder von uns in vergleichbarer Situation sogar an Gott.
6.    „Es ist vollbracht.“ Letzter maßloser Schmerzensausdruck und zugleich grenzenlose Erleichterung, dass das Leid nun ein Ende hat – ein Leid, von dem er vorher wusste, dass es kommt, und dem er dennoch nicht ausweichen konnte und wollte.
7.    „Vater, in Deine Hände befehle ich meinen Geist.“ Dies ist der Moment der Erlösung, des Einkehrens in die letzte, die absolute Ruhe. Dies ist der Satz, der uns alle – ob gläubig oder nicht – hinweghelfen kann, könnte, über die Angst vor der Endlichkeit des eigenen Daseins.      
Soweit die Worte, die sich in ihrer Abfolge zum Zeugnis oder zur Erzählung über die Todesstunde Jesu verdichten. Sie sind gewissermaßen das außermusikalische Programm, das den beiden Musikwerken zugrunde liegt. Was machen nun Joseph Haydn und Sofia Gubaidulina daraus?

Bei Haydn entsteht eine hochdramatische Komposition, eine Musikdrama im Musikstil und in den Klangdimensionen seiner Zeit. Dieses Drama ist einerseits eng an die Worte und die Ereignisse gekoppelt, von denen sie erzählen. Andererseits illustriert seine Musik nicht einfach die Erzählvorlage, sondern erzählt ihre eigene Geschichte von Gefühlen und Affekten. Anders ausgedrückt: Haydn geht davon aus, dass seine Zeitgenossen die neutestamentarischen Geschehnisse kennen und sich ihre Vorstellungen davon machen. Dazu stellt er nun ein eigenständiges musikalisches Werk, das ganz auf Emotionalität abzielt, das  durch Musik die Leiden Christi ausdrücken will – und zwar so, wie Haydn selbst es formuliert: „dass sie auch dem Unerfahrensten den tiefsten Eindruck in seiner Seele erwecket“.

Dazu passt, dass die Erstfassung seines Werkes über „Die Sieben letzten Worte unseres Erlösers“ gar keinen Text enthielt. Es war eine reine Orchestermusik, 1785 vom Domkapitel im andalusischen Cadiz bei Haydn in Auftrag gegeben. Wahrscheinlich 1786 wurde diese Musik dort erstmals in die Karfreitagsliturgie eingebaut. Und zwar als eine Art musikalisch besinnlicher Beiträge zwischen den sieben Predigten des Bischofs zu den sieben letzten Worten Jesu. Dass die Musik zu den jeweiligen Predigten/Worten in Beziehung steht, versteht sich von selbst. Das Werk wird im Untertitel ünbrigens bezeichnet als „Sieben Sonaten mit einer Einleitung und am Schluss ein Erdbeben“.

Auch die wohl ein Jahr später entstandene Zweitfassung des Werkes, ein Streichquartett, kam noch ohne Worte zu Gehör. Allerdings waren Jesu Ausrufe am Kreuz in den Notenblättern vor jeder Nummer auf Latein abgedruckt. Quasi als Satz-Überschriften oder besser: als die Stimmung jedes Satz skizzierende Angaben.
    
Über die genaue Bearbeitungsabfolge des Werkes durch Haydn kann sich die mir vorliegende Literatur nicht recht einig werden. Wir wissen aber, es gibt noch eine Fassung für Klavier sowie das große Oratorium für Orchester, vier Solostimmen und Chor, das viele von Ihnen kennen werden. Und es gibt eine eher selten gespielte sinfonische Bearbeitung mit zugehörigem Sprechtext. Dieser Fassung begegnen wir beim heutigen Konzert.

Besonders markant wird der dramatische Impetus Haydns, von dem ich vorhin sprach, in der Einleitung und im Schlussteil, dem Erdbeben. Der Beginn ist quasi eine affektgeladene Ouvertüre in der Requiem-Tonart d-moll. Da entfaltet sich sofort eine tragische Atmosphäre zwischen heftiger Erregung und vorausahnender tiefer Trauer. Das abschließende Erdbeben fasst die Todesstunde Jesu noch einmal in gefühlsgesteigerter Weise zusammen – mit schmerzvoller Chromatik und wuchtigen Orchesterschlägen.
 
Was aber macht nun 200 Jahre später Sofia Gubaidulina aus diesem Stoff ?
Die an der Oberfläche auffälligste Merkmal sind: Erstens verlässt sie den aus früheren Jahrhunderten gewohnten Klangraum. Zweitens: Wie auch Haydn ursprünglich ganz ohne die biblischen Worte auskam, so kommt die russische Gegenwartskomponistin jetzt wieder ganz ohne Worte aus. Das rein instrumental angelegte, siebensätzige Werk für Cello, Bajan und Streichorchester entstand 1982 in der Sowjetunion. Es mag sein, dass das damalige Verbot dort, biblische Texte zu vertonen, den Gedanken an ein Werk mit Sprache gar nicht erst aufkommen ließ. Später erklärt die Komponistin jedenfalls: „Natürlich kann ein Werk, das rein instrumental erdacht ist, nicht die Aufgabe haben, den Evangelientext zu illustrieren.  Hier geht es vielmehr um rein klangliche und instrumentale metaphorische  Gesten.“

In der Theorie steht Frau Gubaidulina damit Joseph Haydn recht nahe.  Beide wollen nicht einfach den Bibeltext illustrieren, sondern betrachten  ihre Musik als eigene Dimension der Wahrnehmung des Karfreitagsgeschehens. Doch während Haydn dabei zu einer affektgeladenen musikalischen Erzählung, zu einem Musikdrama gelangt, kommt die Russin – zu was eigentlich? Sie sehen mich jetzt etwas ratlos, denn das Konzept ihrer Musik ist schwer zu verstehen und noch schwerer zu erklären. Weshalb ich mich auf meine persönliche Deutung dieser eigentümlichen Klangwelt zurückziehen muss. 

Als ich Gubaidulinas „Sieben letzte Worte“ erstmals und ohne jede theoretische Vorbereitung hörte, ordnete ich das Werk der Kategorie „Meditation im Klangbereich der Neuen Musik“ zu. Und zwar Meditation über ein bestimmtes Thema: die sieben letzten Worte Jesu eben – die den sieben Sätzen der Komposition, wie einst bei Haydn, lediglich als gedruckte Überschriften beigegeben sind. Bei der Zuordnung „Meditation“ bin ich bis heute geblieben, auch wenn die kunstvoll gewirkten Musikteile und vor allem Klangeffekte an der Grenze der Tonalität oder jenseits davon überwiegend alles andere als beruhigend ausfallen.

Sofia Gubaidulinas Komposition löst bei mir ein intensives Kopf- und Gefühlskino aus, das sich vor allem um Schmerz und Verzweiflung dreht, in die sich nur gelegentliche kurze Momente der Besänftigung und Hoffnung mischen. Das mag aber jedem von Ihnen nachher anders gehen. Diese Musik oder Klangwelt lässt sich mit Worten kaum beschreiben, zumindest kann ich es nicht. Sagen lässt sich nur: Sie ist ein intensives, für manchen Hörer ein erschütterndes, vielleicht auch ein buchstäblich schmerzendes Erlebnis.

Auf jeden Fall sollten Sie sich, meine Damen und Herrn, für den ersten Konzertteil von klassisch-romantischen Musikerwartungen lösen und nicht mit traditioneller Harmoniemusik rechnen. Kurzum: Es steht Ihnen Klang- und Gefühlsabenteuer bevor.

Der Vollständigkeit halber will ich aber wenigstens versuchsweise doch noch kurz auf das theoretische Konzept der Komponistin eingehen.
Wenn ich es richtig verstanden habe, geht es bei den vorhin zitierten metaphorischen Gesten um Symbolik. Und zwar um eine unmittelbare Symbolik, die sich auch in physikalischen Strukturen der Musik, der Instrumente, ja sogar des Notenbildes wiederfindet. Etwa das zentrale Kreuzsymbol. Sofia Gubaidulina sieht dieses Symbol beispielsweise in langgezogenen Cellotönen, die durch Glissandoklänge benachbarter Saiten gekreuzt, gekreuzigt werden. Sie erkennt solche Kreuzungen/Kreuzigungen, wenn beim Bajan sich benachbarte Töne klanglich überschneiden oder sich im Orchester aufsteigende und abfallende Tonlinien begegnen. Manchmal bildet sie sogar das Notenbild, ihre aufgeschirebenen Noten der Kreuzform nach.

Und wieder kann ich nur für mich sprechen und muss bekennen: Mir ist dieses Konzept bis Dato verschlossen geblieben; ich kann mit dieser symbolistischen Ebene von Gubaidulinas Musik nichts anfangen. Vielleicht liegt es daran, dass die Wahrnehmungs- und Betrachtungsebenen der tief religiösen Komponistin dem nichtreligiösen Rezipienten einfach unzugänglich sind. Mag sein, es geht ihnen nachher anders. Unstrittig bleibt allerdings, dass diese Musik auch dann ein bewegendes, aufrührendes Erlebnis ist, wenn man das theoretische oder religiöse Konzept dahinter nicht nachvollziehen kann.

Lassen Sie mich zum Abschluss noch auf zwei besser greifbare Aspekte eingehen: das Instrument namens Bajan und die Biografie von Sofia Gubaidulina. Wie Sie nachher sofort erkennen werden, gehört das Bajan  zur Familie des Akkordeons. Allerdings ist es ein Vertreter der Linie „chromatisches Knopfakkordeon“. Diese Linie ist seit dem späten 19. Jahrhundert vor allem in der Volksmusik von Österreich bis tief in die russische Wolga-Region hinein vertreten ist. Im Unterschied zu unserem Akkordeon (Schifferklavier) besteht seine Melodie- oder Diskantleiste nicht aus einer verkleinerten Klaviertastatur, sondern aus einem Knopfbrett. Und es soll ja kein gelernter Akkordeonspieler meinen, dass er sich mit diesen Knöpfen umstandlos zurechtfinden würde. Die Tonanordnung unterscheidet sich erheblich von der gewohnten Klaviatur.

Vorläufer des Bajan war die einst in Wien entwickelte Schrammelharmonika, die ab 1870 in Russland weiterentwickelt wurde und sich unter den slawisch-russischen Volksmusikanten bald großer Beliebtheit erfreute. Insofern stellt Gubaidulinas Verwendung des Bajan als gleichwertiges Soloinstrument neben dem Cello einen bewussten Rückgriff auf die musikalische Volkskultur ihrer früheren Heimat dar.

Sofia Gubaidulina kam 1931 in Tschistopol an der Kama zur Welt, einer  Kleinstadt in der ehemaligen autonomen Sowjetrepublik Tatarstan, dem Siedlungsgebiet der Wolga-Tataren. Am Konservatorium der Republikhauptstadt Kasan studierte sie Klavier und Komposition. Mitte der 1950er setzte sie ihr Studium in Moskau bei einem Assistenten von Dimitri Schostakowitsch fort.

Schon 1962 wurde die junge Frau wegen ihres ungewöhnlichen Kompositionsstils von Kommilitonen und sowjetischen Kulturkadern heftig kritisiert. Sie erhielt dann aber beim Examen unerwartet Zuspruch und Ermutigung vom Vorsitzenden der Prüfungskommission. Das war Schostakowitsch selbst, und der sagte zu ihr, sie solle unbedingt „auf ihrem falschen Weg weiterkomponieren“. Das tat sie denn auch ab 1963 als freischaffende Komponistin.

Sehr bald wurde man im Westen auf ihre musikalischen Arbeiten  aufmerksam. Vor allem der Geiger Gidon Kremer förderte hier die Rezeption ihrer Werke. So kam es, dass die Komponistin in Musikkreisen wohlbekannt war und ihr international zahlreiche Auszeichnungen zuteil wurden, lange bevor sie 1986 erstmals in den Westen ausreisen durfte. Seit 1992 lebt Sofia Gubaidulina in einem kleinen Ort bei Hamburg. Neben  Alfred Schnittke und Edison Denissow gilt sie als die große alte Dame der klassischen-russischen Moderne nach Schostakowitsch.

Das war's von mir für heute. Ich wünsche Ihnen nun ein spannendes Konzert und nachfolgend angenehme Osterfeiertage.                                                               Andreas Pecht

(Gehalten am 6. April 20120)

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