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2012-02-21 Schauspielkritik:

Christoph Mehler hat am Schauspiel Frankfurt Tschechows "Iwanow" gescheit und einfühlsam inszeniert

Iwanow kriegt Burn-out



 
ape. Frankfurt. Im vergangenen Juni hatte sich Christoph Mehlers Mainzer Inszenierung von „Endstation Sehnsucht“ wegen tobsüchtiger Krawallmacherei an dieser Stelle einen argen Verriss eingefangen (s. hier). Neuerdings ist der Mann Hausregisseur am Schauspiel Frankfurt, wo er am Wochenende „Iwanow“ von Anton Tschechow auf die Bühne gebracht hat. Und siehe, Mehler kann auch anders: Eine so gescheite wie einfühlsame Interpretation des Dramas von 1887, inklusive Mehrwert für Nachdenklichkeit übers Heute, sah man in der hiesigen Großregion lange nicht.

 
Am Rande einer trostlosen Festtafel vorgestriger Art sitzt die Tifelfigur – und stiert ins Nirgends.  Die Tafel steht auf einer in die ansonsten leere Riesenbühne gehängten Plattform: Schwankender Grund, der mal so, mal so zur Schieflage neigt; Sinnbild, dass das Leben schnell aus dem Lot geraten kann. Wie bei dem 30-jährigen Iwanow dort, der zuvor „für zehn gearbeitet hatte“. Plötzlich ist er unendlich müde, ist der Arbeit, der Geschäfte, der Mitmenschen, der Liebe und seiner selbst überdrüssig. Leer, ausgebrannt, depressiv. Und er weiß es, auch wenn er es nicht versteht: „Was ist das für ein Loch, in das man da fällt?“

Isaak Dentler führt im fast sanften Gleichmut finaler Ergebenheit ans Unabänderliche einen Iwanow vor, den ein in unserer Zeit gut  bekanntes Schicksal heimsucht. Gefangen in sich, geschmiedet ans unaufhörlich rotierenden Rad aus Minderwertigkeits- und Schuldgefühlen, aus Überforderung, Scham und Hoffnungslosigkeit. Die ihn lieben, begreifen nicht, warum er so ist. Die anderen misstrauen ihm, weil er so ist. Und alle fordern von ihm: „Reiß dich zusammen!“ Es ist die Stärke von Mehlers Inszenierung und Dentlers Spiel, die Vergeblichkeit solcher Forderung an einen Depressiven spürbar zu machen. 

Die erste Ehefrau, Anna – die für ihn den jüdischen Glauben ablegte und deshalb von den Eltern enterbt wurde – wird darüber sterbenskrank. Iwanow lädt die Schuld auf sich, ändern aber konnte er es nicht. Noch während Anna mit dem Tode ringt, lernt er die zweite Frau, Sascha, bei den Lebedews kennen. Zu denen flüchtet er abends, um der Bedrückung im eigenen Haus zu entfliehen. Mit Claude De Demo (Anna) und Lisa Stiegler (Sascha) sind die beiden Frauen als grundlegend verschiedene Typen besetzt. Und doch spiegelt sich in der Jüngeren die Kraft eben jener liebenden Hingabe, die der todkranken älteren verloren ging. Eine Kraft, die im schwarzen Loch von Iwanows Depression versickerte und absehbar wieder versickern wird.

Ringsum tobt das „reale“ Leben. Gutsverwalter Borkin (saftig: Sascha Nathan) hat nur Geschäfte im Kopf, will ständig den überschuldeten Iwanow zu selbigen mitreißen. Saschas Mutter  (Heidi Ecks) denkt nur an das Geld, das der ihm schuldet. Annas Arzt Lwow (Martin Rentzsch) bezichtigt Iwanow gar, die Seelenkrankeit vorzutäuschen, um seine mittellose Frau ins Grab zu bringen und nachher an die Mitgift Saschas zu kommen. Kurzum: Das Denken und Streben der „normalen“ Gesellschaft bezieht sich bloß noch auf Geldverhältnisse, ansonsten herrscht sinnentleerte, aber hektisch auftrumpfende Langeweile. Das kommt einem bekannt vor – hier im Frankfurter Schauspielhaus zwischen Börse, Bankentürmen, Versicherungspalästen.

Hat das noch mit Tschechow zu tun? Aber ja. Auch wenn die Stückhandlung nicht akribisch nacherzählt wird, der Schluss gar anders verläuft: Was diese Inszenierung herausarbeitet, ist alles im Original angelegt – selbst die närrische Überzeichnung einiger Nebenrollen. Tschechow beobachtete eine untergehende Gesellschaft und individuelle Erscheinungsformen dieses Prozesses. Darin folgt ihm Mehler, diesen oder jenen Aspekt etwas anders betonend, um das alte Drama als  tiefgründigen Theaterreflex auf die Fragwürdigkeiten auch der Gegenwart zu erhalten.                                                                    Andreas Pecht     


Infos: >>www.schauspielfrankfurt.de


(Erstabdruck 21. Februar Januar 2012)

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