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2011-12-18 Schauspielkritik:

„Die Räuber“ spielen Brandstifter-Video
 
Jan Christoph Gockels bemerkenswerte Mainzer Inszenierung des Schiller-Klassiker

 
ape. Mainz. Auf dem Wohnzimmersofa macht Biedermann es sich bequem, auf dem Dachboden darüber spielen wilde Buben Brandstifter. So etwa lässt sich die Grundkonstellation von Jan-Christoph Gockels jüngster Regiearbeit fürs Staatstheater Mainz umreißen. Doch hatte im Kleinen Haus nicht das Lehrstück von Max Frisch Premiere, sondern Friedrich Schillers „Die Räuber“. Eine inszenatorische Verirrung? Keineswegs, vielmehr die seit langem interessanteste Anwendung des Jugenddramas von 1782 auf unsere Gegenwart.

 
Flach hingedrückt, zieht sich über die ganze Bühnenbreite die Andeutung kleinbürgerlicher Wohnzimmerskultur von den 1950ern bis eben (Bühne: Julia Kurzweg). Hirschgeweih, Sessel, Sofa, Klavier und ein pittoresker Bauernschrank, hinter dem der alte Moor seine Privatstube hat. Wie Michael Schlegelberger den Vater von Karl und Franz spielt, das verrät viel über die Moors: In Verfall und Resignation des Alters mischt er immer wieder den scharfen Ton eines autoritären Patriarchen, zu dessen Gewohnheiten väterliche Zuwendung gewiss nie gehörte. Dass die beiden Söhne da Problemfälle werden, verwundert kaum.

Franz hat nur im Sinn: „Ich will alles um mich her ausrotten, was mich einschränkt, dass ich nicht Herr bin“ – also den erstgeborenen Bruder ausstechen und den Vater über die Klinge springen lassen. Alleinerbe will er sein und sich gleich noch Karls Verlobte Amalia unter den Nagel reißen. Bei André Willmund ist Franz die erwachsene Ausgabe eines schwierigen Kindes: äußerlich angepasster Spießer, innerlich verbiesterter Nesthocker, in seinem Verhalten machthungriger Schleimer und Intrigant.

Karl, der sich vom Vater verstoßen wähnt, findet in der ersten Parkettreihe seine Bande, mit der er in die „böhmischen Wälder“ zieht. Die Burschen landen auf dem Dachboden überm Wohnzimmer – inmitten einer Modelleisenbahn-Landschaft. Als Buben spielen sie dort Outlaw, Totschläger, Revoluzzer; zünden kleine Plastikautos an und fackeln ganze Stadtteile aus Papphäuschen ab. Was sie da anstellen, nehmen sie per Videokamera auf, und wir Zuseher bekommen die Gewalt als vielfache Vergrößerung auf die Wohnzimmerwand projiziert. Das alte Drama wird zum heutigen Rollenspiel, bei dem Fiktion und Realität sich vermischen.

Mit weithin originalem Text werden Schillers Fragen hier auf eine Generation angewandt, die zwischen sich auflösenden Gesellschaftsstrukturen und medialer Maßlosigkeit einen Weg finden muss. Des Autors brachiale Räuberfantasie wird gespiegelt in den Gewaltexzessen der Videokultur, die sich ihrerseits spiegeln in der Gewalt dieser „Räuber“ spielenden Buben. Dabei geht dem Karl von Stefan Graf der an vielen Theatern gern gepflegte edle Zug zwangsweise verloren: Mag er noch so freundlich dreinschauen, als Kind seiner/unserer Zeit ist ihm das Gutmenschliche nur wohlfeile Maske vor düsterer Verlorenheit.

Das Dachbodenspiel geht fließend in mörderischen Ernst über. Die psychologische Gruppendynamik der Schiller'schen Bande funktioniert hier wie dort, damals wie heute. Und wie schafft Amalia den Sprung in die Gegenwart? Pascale Pfeuti legt sie an als Mischung aus empfindsamem Mädchen und resoluter Frau, die mal spröde, mal fleischlich auftrumpft. Die Liebe zum totgeglaubten Karl scheint ihr mehr Schutzschild gegen Franz zu sein als innere Passion. Konsequent kommen die Ewigkeitsansprüche klassischer Liebe hier unter die Räder moderner Weiblichkeit. Was Schiller als Möglichkeit sah, aber nach damaligem Ideal verwarf, wird nun vollzogen: Den Grafen von Brand umschlingt diese Frau nach so langem Darben kurzerhand mit Lust; nicht wissend, dass es der maskierte Karl ist.

Es ging dem 29-jährigen Regisseur sichtlich nicht darum, den Klassiker nur irgendwie attraktiv, gar in historischer Authentizität auf die Bühne zu stellen. Er prüfte stattdessen mit Ernsthaftigkeit, ob das Werk noch taugen kann als Beitrag zur Diskussion heutiger Zustände. Und wenn ja, wie es dann gespielt sein muss, um starke Wirkung zu entfalten, zugleich in sich schlüssig nahe an Schillers Geist zu bleiben. Der knapp dreistündige Abend erfüllt diese Bedingungen – Hirn und Herz im besten Sinne fordernd und bewegend.                                                                      Andreas Pecht


Infos: www.staatstheater-mainz.com

(Erstabdruck 19. Dezember 2011)

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